«Am Tod können wir, im Vergleich zum Leben, nichts ändern»

09.11.17

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Kanti-Schüler Aurel Berger, inmitten älterer Gesprächsteilnehmerinnen und -teilnehmer, traut sich nicht, sich in die Diskussion einzumischen, macht sich aber Gedanken: «Ich fragte mich schon oft, ob so etwas wie Zufall überhaupt existiert, oder ob alles so kommen muss, wie es kommt.»

Seit mehr als einem Jahr veranstaltet Onko Plus zusammen mit dem Forum für Sterbekultur regelmässig ein sogenanntes «Café mortel». Kürzlich hat ein 17-jähriger Schüler der Kantonsschule Wetzikon an der Gesprächsrunde teilgenommen, die sich ums Leben, Sterben und den Tod dreht. Dies ist sein Bericht in einer leicht gekürzten Form.

Von Aurel Berger

Vom Bahnhof sind es nur einige Minuten zum Alterszentrum Klus Park, trotzdem nehme ich das Tram. Ich steige wieder aus. Meine Schritte werden immer schneller, als mich plötzlich dicke Tropfen im Gesicht treffen. Ein kleines, buntes Riesenrad sticht mir in die Augen, als ich schliesslich in der Eingangshalle des Alterszentrums stehe. Dort werde ich fröhlich empfangen und von Franz Ackermann in die Fischlistube geführt, einem hellen Raum mit Tischen, Stühlen und sogar einem Aquarium. Zögerlich wagen sich einige ältere Personen an einen Tisch zu setzen. Andere bleiben in der Tür stehen und betreten den Raum erst auf Nachdruck von Herrn Ackermann. Der Raum füllt sich allmählich mit ernsten, nachdenklichen sowie auch mit fröhlichen, erwartungsvollen Gesichtern.

«Cafés mortels» wie dieses existieren bereits auf der ganzen Welt und haben ihren Ursprung in Neuenburg. Die Motivation des Gründers Bernard Crettaz aus dem Wallis war, ein Tabu zu brechen. Die Menschen sollten es leichter haben, sich von Schicksalsschlägen zu erholen. Ausserdem sind sie mit ihren Gefühlen nicht mehr alleine und stossen auf Leute mit einem offenen Ohr. In Grossstädten wie Berlin, London und New York wird bereits über den Tod gesprochen. Aber auch in kleineren Städten und Dörfern Kanadas, Australiens und Neuseelands stösst die Idee auf grossen Anklang. In der Schweiz wird man in Basel, Schaffhausen, Sargans, Winterthur, Zug und seit einem Jahr auch in Zürich fündig.

«Man sieht deutlich, wie sich das ewige Leben entfernt, wenn jemand stirbt.»
Monika Pfenninger, Forum für Sterbekultur

Monika Pfenninger, die mit Herrn Ackermann die Leitung der heutigen Diskussion im Zürcher Alterszentrum Klus Park übernimmt, meint, es sei ihr wichtig, dass es sich nicht um einen Vortrag oder Seminar handle, sondern um eine freie Diskussionsrunde. Jeder ist willkommen, ob alt oder jung, um über Leben und Tod zu sprechen. Wenn man über den Tod rede, lebe man viel bewusster, deshalb gehöre das Thema Leben genau wie das Thema Tod auch ins Gesprächscafé, erklärt Frau Pfenninger. Im zarten Alter von fünf Jahren kam sie bereits mit dem Tod in Kontakt. Dieses Thema wollte sie nicht mehr loslassen und begleitet sie bis heute. Friedlich und natürlich empfand sie den Tod ihres 96 Jahre alten Nachbarn und ihres Mannes. Sie begleitete die beiden bis zum Tod und war zutiefst bewegt. Das Vergängliche und zugleich das Ewige würden bewusst, und man sehe deutlich, wie sich das ewige Leben beim Tod entferne, erklärt sie mir.

Ihr Moderationspartner Franz Ackermann wurde als 7-Jähriger mit dem Tod seines Vaters konfrontiert. Für ihn war dieser zwar physisch gegangen, aber er spürte immer noch eine Verbindung zu ihm. Als er sich allmählich dem Todesalter seines Vaters näherte, begann ihn das Thema Tod immer brennender zu interessieren. Als Heimleiter eines Pflegeheims erlebte er zahlreiche Sterbemomente. Die gemeinsame Berufung, Sterbende bis zum Tod zu begleiten, hat Frau Pfenninger und Herrn Ackermann sogar als Paar verbunden.

Jeden zweiten Mittwoch des Monats treffen sich Interessierte in der Fischlistube des Alterszentrums Kluspark. Durchschnittlich kommen etwa 20 Personen, darunter gibt es auch Stammgäste. Eine neugierige Frau, welche in diesem Heim wohnt, schwört sogar, bis an ihr Lebensende treu an jeden Anlass zu kommen, denn es erfülle sie ungemein. Die Gäste sind zwischen 17 und 80 und kommen meistens, weil sie vom Tod betroffen sind, beruflich immer wieder damit zu tun haben oder einfach nur neugierig sind.

Als würde mich das Thema nichts angehen

Unter all den alten Leuten fühle ich mich so, als gehöre ich nicht hierher. Als würde mich dieses Thema nichts angehen. Dabei sind wir alle davon betroffen, ob Kleinkind oder Opa, Obdachloser oder Multimillionär. Denn das Leben ist vergänglich und kann ohne Vorwarnung in der nächsten Sekunde zu Ende sein. Doch was geschieht danach? – Niemand weiss es.

Es kehrt langsam Ruhe ein in der Fischlistube. Die erwartungsvollen Augenpaare richten sich allmählich alle auf Frau Pfenninger. «Habt ihr Angst vor dem Tod?», will Frau Pfenninger wissen. Ich schaue in die Runde. Bis auf das Blubbern des Aquariums und das leise Rauschen der Strasse ist nichts zu hören. Niemand sagt etwas, was ich als Ausdruck des Nachdenkens empfinde. Plötzlich meint der Herr neben mir, es sei viel zu laut, ob man das Fenster schliessen könne. Wenig später klagt ein anderer, er bekäme nicht genügend Luft, man solle das Fenster doch bitte wieder öffnen. Ich habe das Gefühl, den Leuten ist nicht wohl bei der Sache, denn es ist weder stickig noch laut. Es fällt den Menschen einfach schwer, zu beginnen.

«Die Verstorbenen sind nicht weg vom Fenster.»
Teilnehmerin Gesprächscafé

Plötzlich ertönt eine Stimme: «Sterben schmerzt, denn die Welt ist so schön: der Wald, die Berge, Blumen und Schmetterlinge. Diese Freuden werden mir fehlen. Das Ungewisse macht mir Angst.» Eine zarte Frauenstimme meldet sich zu Wort: «Ich habe keine Angst, nur Respekt. Solange die richtigen Personen an meinem Sterbebett für mich da sind und dafür sorgen, dass ich bewusst und ohne Medikamente über die Schwelle gehen kann, bin ich unbesorgt.» – «Mir ist es einfach wichtig, dass ich nicht ohne Lebensfreude sterbe.» – «Und ich glaube, dass die Verstorbenen nicht weg vom Fenster sind. Tote haben eine Verbindung zu uns. Sie haben mehr Übersicht und verstehen die Zusammenhänge, nicht so wie wir. Es muss schön sein, tot zu sein und den Menschen auf der Erde helfen zu können.» Jetzt nimmt die Diskussion richtig an Fahrt auf. Ich sehe in die alten Gesichter, die plötzlich vor Energie glühen. Eine weitere Stimme bestätigt: «Ich bin der festen Überzeugung, dass die geistige Welt eine Verbindung zu uns hat. Die Verstorbenen helfen uns mit Träumen, spontanen Einfällen oder führen uns zu der richtigen Person zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Wir nennen es Intuition, aber ich bin mir sicher, dass das die geistige Welt ist.»

Ich werde immer nachdenklicher, traue mich aber nicht, am Gespräch teilzunehmen. Ich fragte mich schon oft, ob so etwas wie Zufall überhaupt existiert, oder ob alles so kommen muss, wie es kommt. Steuert das jemand oder etwas, um uns das zu lehren, was wir noch nicht wissen? Sind wir hier, um Erfahrungen zu sammeln, uns weiterzuentwickeln und die geistige Welt hilft uns dabei? Ich finde es unheimlich spannend, dass niemand weiss, was nach dem Tod geschieht. Jede Religion sagt etwas anderes, aber alle sind sich einig, dass etwas Spezielles passiert. Wir kommen bei der Geburt mit dem ersten Atemzug auf die Welt und gehen mit dem letzten Atemzug wieder. Gibt es einen ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen? Vielleicht geht es irgendwo irgendwie weiter. Wir können gespannt darauf sein, was nach unserem letzten Atemzug passiert. Werden wir jemals wieder atmen?

«Nach dem Tod bereiten wir uns auf die Wiedergeburt vor.»
Teilnehmer Gesprächscafé

Ein Mann mit sanfter Stimme fügt gerade hinzu, als hätte er meine Gedanken gehört: «Ich glaube, wir durchlaufen nach dem Tod verschiedene Stufen und Stationen und bereiten uns auf unsere nächste Geburt als Mensch vor. Die Vollkommenheit ist das Ziel. Damit meine ich, dass wir absolute Weisheit erlangen und uns von unseren Grundbedürfnissen, wie essen und trinken, lösen können. Und auch dann verschwinden wir nicht einfach, sondern helfen unseren Mitmenschen auch diese Vollkommenheit zu erlangen.» «Diese Vorstellung hat meiner Meinung nach buddhistische Ansätze, ausser dass sie nicht an eine Wiedergeburt als Tier glaubt. Der Mensch ist anders als ein Tier: Der Mensch ist schöpferisch und entwickelt sich stetig weiter. Er wurde nach dem Abbild Gottes erschaffen.»

Ich bin sehr beeindruckt, wie jeder seine Meinung offenbart, ohne an den Ansichtsweisen des anderen etwas schlechtzureden. Jeder hört zu und probiert nachzuvollziehen. Ich bin sehr gerührt zu sehen, dass sich einer nach dem anderen wünscht, auch zu Wort zukommen. Das Eis ist definitiv gebrochen, und nun will ein Mann mit nur noch wenigen Haaren auf dem Kopf und etlichen Pflastern im Gesicht die Aufmerksamkeit. Ein Lächeln durchzieht sein Gesicht und er beginnt zu sprechen. Es ist jedoch keine erfreuliche Nachricht, im Gegenteil: «Meine Frau und ich sind schwer krank und werden bald sterben.» Ich sehe wie erleichtert er ist, uns diese Nachricht zu verkünden. Ich bin mir nicht sicher, warum er so glücklich ist, doch ich denke, wir haben ihm die Angst vor dem Tod ein wenig genommen. Vielleicht ist es für ihn auch nicht so schlimm, wenn er zusammen mit seiner Frau sterben kann.

Besuch aus dem Jenseits

Ich schaue nach rechts. Mein Nachbar, der bisher alles schweigend zur Kenntnis genommen hatte, wird plötzlich unruhig. Er beginnt mit glänzenden Augen von seinem Erlebnis zu erzählen: «Mein Vater verstarb früh, als ich noch ein kleines Kind war. Ich kannte ihn kaum, das Einzige, was ich mitbekam, war nur, dass meine Mutter andauernd über ihn fluchte. Meine Erinnerungen waren also nicht sehr positiv. Aber seit kurzem spüre ich seine Präsenz, dabei wird mir immer ganz warm ums Herz. Ich suche ihn nicht, er kommt einfach. Nun habe ich ihn besser kennengelernt und habe einen Eindruck bekommen, wie er wirklich ist. Ich bin sehr froh über diese Begegnungen.»

Ich bin ergriffen, so viele persönliche und faszinierende Dinge in so kurzer Zeit anvertraut zu bekommen. An keinem anderen Ort kann man so offen diskutieren wie hier. Man respektiert sich gegenseitig und ist froh über jede Meinung. Ich sehe die Lebensfreude in den Gesichtern der alten Menschen und die Erleichterung, die angestauten Gefühle und Fragen endlich teilen zu können. Ich habe das Gefühl, dass es sehr schwierig ist, in einem Altersheim auf ein paar offene Ohren zu stossen. Das Bedürfnis über aufkommende Fragen zum Tod und Gefühle zu sprechen, ist jedoch unheimlich gross. Die Menschen scheuen sich manchmal noch ein wenig, aber merken dann, wie gut es ihnen tut. Wenn man sich bewusst macht, dass man auch irgendwann sterben muss, lebt man viel bewusster und versucht jeden einzelnen Augenblick zu geniessen.

Auf dem Sterbebett nichts bereuen

Ich persönlich fühle mich nach diesem Nachmittag sehr erfüllt, auch wenn keine Frage richtig beantwortet wurde. Das Nachdenken und Diskutieren darüber reichen mir vorerst völlig als Antwort. Ich habe gemerkt, dass ich die Antwort, was nach dem Tod passiert, gar nicht mehr wissen will. Das Einzige, was mich im Moment noch beschäftigt ist, wie ich sterben werde. Wichtig für mich ist, dass ich auf meinem Sterbebett nichts bereuen werde und alles erlebt habe, wonach ich mich sehnte und davon träumte.

Darum komme ich zum Schluss, dass es zwar sinnvoll ist, hin und wieder mal über den Tod nachzudenken und zu sprechen. Aber noch viel wichtiger ist es, sich mit dem Leben allgemein und dem Hier und Jetzt zu beschäftigen. Denn am Tod können wir, im Vergleich zum Leben, nichts ändern.

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