«Mit Palliaviva kann man auf Augenhöhe kommunizieren»
03.08.20
Hausärztin Agnes Rothenfluh führt zusammen mit ihrem Bruder die «Praxis am Dorfplatz» in Knonau. Mit ihrer grossen Erfahrung und ihrem Wissen könnten die Palliaviva-Mitarbeitenden sie in der Betreuung von schwerkranken Patientinnen und Patienten zu Hause entlasten.
Wie geht es Ihnen?
Agnes Rothenfluh: In der jetzigen Corona-Zeit gemischt, sie war nicht einfach und beschäftigt uns auch weiterhin. Wir sind sehr gefordert, vielleicht anfangs weniger von der Zeit, aber vom Aufwand und der Unsicherheit her. Auch aktuell müssen wir in vielen Situationen, in denen es um Covid-19 geht, klärend und beratend beistehen.
Was gibt am meisten zu tun?
Zu Beginn kamen unsere Patientinnen nicht mehr in die Sprechstunde, dafür wurden wir von Telefonanrufen überflutet. Wir haben immer persönlich mit den Anrufenden gesprochen. Die Unsicherheit war gross. Es ging zum Beispiel um die Absicherung gegenüber dem Arbeitgeber oder um Risiken. Selber führen wir keine Tests durch, sondern schicken die Leute dafür ins Spital Affoltern. In der zweiten Phase, als alles gelockert wurde, kamen sie wieder in die Praxis. Viele hatten wegen der Pandemie zu lange mit ihrem Leiden gewartet und waren ungeduldig. Aber auch die Corona-Fallzahlen ziehen wieder an: Wir schicken nach wie vor viele Menschen zum Testen.
Haben Sie auch schwere Fälle erlebt?
Nein, wir hatten nur wenige positive Fälle. Glücklicherweise starb auch niemand von unseren Patienten an Corona und niemand erlitt einen schweren Verlauf. Dafür hatten wir Menschen mit schweren Lungenentzündungen ohne Corona in der Praxis. Deshalb wollten wir sie auch immer sehen und schoben sie nicht einfach ins Spital zum Testen ab.
Unser Hauptvorteil ist die Nähe.»
Sie und Ihr Bruder führen die Praxis am Dorfplatz, die einzige Hausarztpraxis in Knonau. Wie wichtig sind Sie für die Gemeinde?
Die Patientinnen und Patienten sind sehr dankbar. Auch die Gemeinde war froh, dass wir dieses Angebot vor 22 Jahren aufgebaut haben. Unser Hauptvorteil ist die Nähe: Die Patientinnen können zu Fuss kommen, und wir können Hausbesuche über Mittag oder kurz nach Feierabend machen.
Hat die Nähe, die Kleinheit des Dorfes, auch Nachteile?
Für mich ist es manchmal unangenehm, wenn ich in meinen privaten Alltag Patienten antreffe. Einige teilen mir ihre Probleme beim Einkaufen mit. Ich sage jeweils, sie sollen in die Sprechstunde kommen. Ich wohne aus diesem Grund auch in einer Nachbargemeinde, und der Abstand tut gut.
Machen Sie und Ihr Bruder beide Hausbesuche?
Ja, aber wir handhaben sie restriktiv. Das heisst, wir rücken nicht wegen eines fiebernden Kindes aus, sondern nur wegen Patientinnen, die nicht mehr aufstehen können oder ein Transport in die Praxis unmöglich ist.
Also auch wegen solchen in palliativen Situationen?
Genau, bei ihnen ist das mit zunehmender Verschlechterung häufiger der Fall. Meist wechseln wir uns für die Besuche mit den Pflegenden von Palliaviva ab. Am vergangenen Wochenende rückte jemand von Palliaviva zu einer meiner Patientinnen mit einem metastasierenden Nierenkarzinom aus. Ihr Gleichgewicht war gestört, sie stürzte zu Hause und erbrach sich. Die Pflegende meldete sie zur Abklärung im Spital an. Eben wurde ich informiert, dass man weitere Hirnmetastasen entdeckt hat.
Wir kennen die Menschen meist schon lange, auch ihre Familien. Das Vertrauensverhältnis ist bereits aufgebaut.»
Welchen Vorteil haben Sie als Hausärztin in der Betreuung von Patienten mit komplexen Krankheiten?
Wir kennen die Menschen meist schon lange, auch ihre Familien. Das Vertrauensverhältnis ist bereits aufgebaut. Viele sind froh und dankbar für die Unterstützung bei schwierigen Entscheidungen.
Wie viele Palliativpatientinnen betreuen Sie pro Jahr?
Dieses Jahr waren es bisher drei, einer davon ist bereits gestorben.
Wie kommen Palliativpatienten zu Ihnen?
Die meisten sind langjährige Patientinnen, die unter einer malignen, also bösartigen und fortschreitenden, Krankheit leiden. Äussern sie den Wunsch, zu Hause zu bleiben und brauchen spezialisierte Pflege, hole ich Palliaviva hinzu. Selten meldet sich auch ein neuer Patient bei mir, der im Dorf wohnt, und dessen Hausarzt keine Hausbesuche macht.
Nach monatelangem Nichtwissen wieder einzusteigen, ist zum Teil schwierig und anspruchsvoll.»
Kriegen Sie mit, was mit den schwer erkrankten Patientinnen läuft? Die meisten werden dann doch im Spital behandelt.
Gerade bei onkologischen Patienten ist das ein Problem. Sie gehen für die Chemo-Therapien ins Spital, und ich sehe sie monatelang nicht mehr. Plötzlich heisst es, es gebe keine Therapiemöglichkeit mehr, und man schickt sie zu uns. Wir sollten alles einfädeln mit Spitex, Palliaviva und regelmässigen Kontrollen. Nach monatelangem Nichtwissen wieder einzusteigen, ist zum Teil schwierig und anspruchsvoll. Es ist auch persönlich sehr fordernd, gerade bei jüngeren Patientinnen, wenn es ums Sterben geht. Da kommt man manchmal an seine Grenzen.
Müssen Sie dann auch unangenehme Gespräche führen?
Über die Diagnose sind die Patientinnen bereits informiert. Wir sprechen mit ihnen darüber, wie es weitergehen soll. Die Entscheidungen sind sehr unterschiedlich und hängen von den betroffenen Personen ab. Einzelne gehen zielbewusst durch diesen Prozess, sie sagen: Wenn diese Therapie nichts mehr bringt oder ich sie schlecht vertrage, höre ich auf damit. Sie kommen aber vor allem mit konkreten Beschwerden zu mir wie Schmerzen, Verstopfung, Appetitlosigkeit, Schwäche und Anpassung der Medikamente. Aber es gibt auch bereichernde Gespräche über das gelebte Leben, das Sterben, was nachher kommt, oder die Sorgen über die verbleibenden Angehörigen.
Ist es einfacher oder schwieriger, mit einer vertrauten Person das Thema Sterben anzusprechen?
(Überlegt.) Ich denke, eher einfacher. Es gibt aber Patienten, bei denen man merkt, dass sie vom Sterben noch gar nichts wissen wollen. Nur schon das Ansprechen einer Patientenverfügung vermittelt ihnen den Eindruck, man habe sie aufgegeben. Anhand der Patientenverfügung könnten wir aber gut darüber sprechen, dass irgendwann dieser Moment kommt…
Viele Menschen haben Horror davor, künstlich am Leben erhalten zu werden.»
Regen Sie die Patientinnen an, eine Patientenverfügung auszufüllen, oder wollen diese das selbst tun?
Es gibt immer mehr Leute, auch jüngere – 60- bis 65-Jährige –, die sagen, sie wollen eine Patientenverfügung machen. Oder sie haben sie bereits ausgefüllt und wollen sie mit mir besprechen, haben Verständnisfragen zu einzelnen Punkten. Was heisst Reanimation? Was heisst künstliche Ernährung? Viele Menschen haben Horror davor, künstlich am Leben erhalten zu werden. Wenn eine Verbesserung aber aussichtslos ist, werden heute in der Schweiz die Maschinen in Absprache mit den Angehörigen und aufgrund der Patientenverfügung abgestellt.
Ist es nicht vor allem wichtig, dass ich mit meinen Angehörigen über meine Wünsche am Lebensende spreche?
Das ist so. Wenn Sie als gesunder Mensch einen Unfall haben und nicht mehr urteilsfähig sind, werden ihre Angehörigen gefragt, was getan werden soll. Ich betreute mal eine Patientin mit Multipler Sklerose. Sie wurde von ihrem Mann und der Spitex betreut und hielt noch bei klarem Verstand fest, sie wolle bei einer Verschlechterung weder ins Spital eingeliefert, noch reanimiert und nur symptomorientiert behandelt werden. Dann entwickelte sie eine Lungenentzündung. Ihre Kinder verstanden nicht, weshalb ihre Mutter nicht mehr ins Spital kam. Der Vater musste ihnen die Wünsche ihrer Mutter Schwarz auf Weiss zeigen.
Hat die Coronakrise den Patientenverfügungen Auftrieb verschafft?
Wir liessen Corona-Patienten eine Kurzversion ausfüllen, in denen sie festlegten, wo und wie sie im Fall einer schweren Erkrankung behandelt werden wollen. Das war äusserste schwierig. Ich erinnere mich an eine 85-jährige Dame, die sagte, sie wolle unbedingt intensivmedizinisch behandelt werden. Nur weil sie alt sei, dürfe man ihr eine Behandlung im Spital nicht vorenthalten. Sie hatte das Gefühl, man liesse sie zu Hause ersticken.
Man macht ja in der Palliativmedizin nicht nichts mehr, sondern behandelt seine Symptome, so dass er eine möglichst gute Lebensqualität hat.»
Bedeutet es für Sie als Ärztin eine Niederlage, wenn jemand nicht mehr geheilt werden kann?
Wenn die Möglichkeit besteht, dass eine Krankheit heilbar ist oder auch gestoppt werden kann, bin ich sehr dafür, dass man alles probiert. Wenn der Mensch aber nur noch unter den Nebenwirkungen der Therapie leidet und das Sterben nur herausgezögert wird finde ich auch, dass man damit aufhören sollte. Man macht ja in der Palliativmedizin nicht nichts mehr, sondern behandelt seine Symptome, so dass er eine möglichst gute Lebensqualität hat.
Fällt Ihnen ein konkretes Beispiel ein?
Ja, ein Patient erhielt vor zwei Jahre die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs. Operation und Chemotherapien folgten. Danach wuchs der Tumor wieder, und es entwickelten sich Metastasen. Man probierte erneut eine Chemotherapie, die er aber überhaupt nicht gut vertrug. Er beschloss, er wolle nichts mehr gegen die Krankheit unternehmen, nur noch unterstützende Begleitung erhalten. Zuerst kam der Patient alle zwei bis drei Wochen alleine in meine Praxis. Danach wurde es immer enger, Palliaviva und ich wechselten uns für die Kontrollen ab. In vielen Gesprächen ging es ums Sterben, aber auch ums Leben. Er liess sein Leben Revue passieren. Olaf Schulz von Palliaviva sprach jeweils mit ihm und seiner Ehefrau. Dass Palliaviva die pflegenden Angehörigen einbezieht, finde ich optimal. Mit der Zeit musste ich den Patienten zu Hause besuchen, weil er seine Schwäche zunahm. Schulz und ich informierten uns gegenseitig. Der Patient wollte zu Beginn noch mit Exit gehen. Mit der Zeit liess er von diesem Wunsch ab, weil er sich gut betreut fühlte. Zum Schluss wurde er in die Palliativstation in Affoltern a. A. eingewiesen und starb dort. Das war für mich eine geglückte Begleitung.
Sie investieren viel in die Begleitung eines Palliativpatientinnen, auch Gratisarbeit. Seit 2018 gelten neue Tarmed-Tarife, die ihnen das Leben zusätzlich schwer machen. Sie dürfen nur noch weniger Zeit in Abwesenheit des Patienten abrechnen.
Das finde ich nicht richtig. Die Berichte von Palliaviva genau zu lesen, ist wichtig und bedeutet nun mal ein zeitlicher Aufwand. Auch die Kommunikation mit allen Beteiligten ist aufwändig. Ich habe auch eine demente Patientin und muss viel mit ihren Angehörigen, ihrer Beiständin oder der Spitex kommunizieren. Da reichen sechzig Minuten in drei Monaten bei Weitem nicht aus. Somit arbeitet man ohne Bezahlung.
Was bringt Ihnen die Zusammenarbeit mit Palliaviva?
Sehr viel. Mein Bruder und ich arbeiten gerne mit den Pflegenden zusammen. Das Wissen und die Erfahrung der Mitarbeitenden entlasten uns in diesen – nicht einfachen Situationen – enorm. Ich würde sagen, die Pflegenden haben sogar ein grösseres Wissen als wir über die notwendigen Medikamente, die sie dann im Notfallplan vorschlagen und in einer Box vor Ort lagern.
Ich empfinde die Arbeit von Palliaviva nie als Reinreden oder als Konkurrenz. Die Pflegefachpersonen sind in der Lage, Situationen richtig zu beurteilen.»
Ist es für Sie kein Problem, wenn Ihnen ein Pflegefachmann eine Liste von Medikamenten vorschlägt?
Nein, denn die Kommunikation erfolgt auf Augenhöhe. Ich empfinde es nie als Reinreden oder als Konkurrenz. Die Pflegefachpersonen sind in der Lage, Situationen richtig zu beurteilen. Super für uns ist auch, dass die Pflegenden bei den Patientinnen auch notfallmässig vorbeigehen können und zum Beispiel eine Spitaleinweisung vorschlagen, nicht selten, um die Angehörigen zu entlasten. Das geschieht immer in meinem Sinn und selbstverständlich in Absprache.
Wie haben Sie unsere Stiftung kennengelernt?
Palliativmediziner Roland Kunz, der vor über zehn Jahren die Palliativstation in Affoltern a. A. aufbaute, machte den Fachbereich im gesamten Knonaueramt bekannt. Wir Hausärztinnen wurden regelmässig an Fortbildungen eingeladen. Die Palliativstation ist für uns auch eine Entlastung. Viele Patienten werden von dort wieder nach Hause entlassen und brauchen ein dichtes Betreuungsnetz. So kommt neben der Spitex auch Palliaviva ins Spiel.
Wie könnten wir als Stiftung für spezialisierte Palliative Care noch mehr Hausärztinnen und -ärzte ins Boot holen?
Ich würde unbedingt mit der Entlastung werben. Die meisten Ärztinnen können ja nicht mehr 24-Stunden-Notfalldienst leisten. Schwerkranke Patientinnen und ihre Angehörigen brauchen aber häufig rund um die Uhr einen Ansprechpartner. Bei vielen geht es darum, dass sie in einer medizinischen Krise nicht auf den Notfall gehen oder die Ambulanz rufen müssen. Kürzlich habe ich eine jüngere Patientin angemeldet, die mit einer neuen Chemotherapie startete. Sie sagte, dass ihr die Chemo jeweils schwer zusetzen würde und sie froh wäre, sie könnte rund um die Uhr jemanden erreichen. Jetzt kümmert sich Palliaviva um sie und konnte konkret helfen, als sie nach der letzten Therapie starkes Fieber entwickelte.
Praxis am Dorfplatz
Auf Anregung des damaligen Gemeindepräsidenten eröffneten Agnes Rothenfluh 1998 zusammen mit ihrem Bruder Walter Baumann-Kranz die «Praxis am Dorfplatz» in Knonau, die erste und einzige Hausarztpraxis in der Gemeinde, die 2000 Einwohnerinnen und Einwohner zählt. Heute seien sie beide völlig ausgelastet und würden nur noch neue Patienten aufnehmen, die in Knonau oder einer Nachbargemeinde wohnten, sagt Rothenfluh. Die Allgemeinpraktikerin deckt ausserdem das Gebiet der Gynäkologie ab. Ihr Bruder ist ebenfalls Allgemeinmediziner und betreut Kinder ab Geburt. Rothenfluh und Baumann stammten nicht aus einer Ärztefamilie, wie man vielleicht vermuten könnte, sondern ihr Vater war Briefträger. Beide Kinder studierten erst auf dem zweiten Bildungsweg Medizin.