Bis dass der Tod uns scheidet
06.07.17
«Mit der Zeit wurde auch für ihn Zärtlichkeit immer wichtiger.» (Symbolbild: Jan Tepass/fotolia.com)
Das ist der Erfahrungsbericht einer Frau, welche eine frühe Liebe ihres Lebens bis zum Tod begleitete. Das Spezielle daran: Zum Paar wurden die beiden erst kurz zuvor.
«Die Frage, weshalb ich Markus* bis zum Schluss pflegte, überrascht mich. Sie stellte sich mir nie. Ich konnte nicht anders, sondern erfüllte damit ein Bedürfnis, das tief in mir steckt.
Als ich 19 und er 33 Jahre alt war, lernten wir uns kennen. Er war nett zu mir, lehrte mich Autofahren, wir machten Ausflüge zusammen. Es entwickelte sich eine Freundschaft. Natürlich war ich verliebt in ihn. Er bekam eine Stelle im Ausland. Ich begann zu studieren. Wir schrieben einander. Nach 15 Jahren trafen wir uns wieder und waren oft zusammen. Die Freundschaft wurde tiefer, aber wir waren wohl noch nicht reif füreinander. Er ging beruflich wieder ins Ausland.
Geheiratet habe ich mit Anfang vierzig – einen anderen Mann. Mit ihm ging ich ins nahe Ausland. Auch er war viel älter als ich, 18 Jahre. Er war verwitwet, hatte erwachsene Kinder. Ich zog zu ihm.
Meinem Mann fiel auf, dass ich Markus etwas bedeutete.
Wir führten eine glückliche Ehe. Trotzdem riss der Kontakt zu Markus nicht ab. Mein Mann und ich verbrachten immer die Winter- und Sommerferien in der Schweiz. Bei dieser Gelegenheit sahen wir Markus manchmal. Er war sehr zurückhaltend. Meinem Mann fiel dennoch auf, dass ich ihm etwas bedeutete. Er selbst blieb Junggeselle, lebte aber sein Leben.
Mein Mann war Herzpatient und erkrankte an Prostatakrebs. Ich pflegte ihn bis zu seinem Tod. Das war für mich selbstverständlich. Früher, als junge Studentin, hatte ich einmal vier Monate im Spital als Hilfspflegerin gearbeitet. Ich dachte oft: Das ist das Beste, was ich je gemacht habe. Mein Gatte war nur eine Woche bettlägerig. Ihm schnürten Metastasen die Speiseröhre zu, er konnte nichts mehr essen und trinken. Diese sieben Tage waren wunderschön. Er nahm Abschied von seinen Kindern, Enkeln und Freunden und organisierte seine Abdankung. Er starb friedlich zu Hause, neben mir.
Manchmal organisierte ich es schon so, dass ich zufällig in der Schweiz war.
Markus kondolierte mir sehr lieb. Neun Monate danach kam ich in die Schweiz, um Ski zu fahren und traf ihn wieder. Später war ich regelmässig im Land, weil auch meine Schwester krank war und starb, und ich schliesslich ihre Wohnung räumen musste. Manchmal organisierte ich es schon so, dass ich zufällig in der Schweiz war. Auch als ich das Haus meines Mannes räumen musste, war mir Markus eine moralische Stütze und guter Gesprächspartner.
Er litt an Lungenkrebs und der Lungenkrankheit COPD, kam nicht mehr ohne Sauerstoffgerät aus. Früher hatte er viel geraucht. Ob ich ihn begleiten würde, fragte er, als er wegen einer Lungenentzündung ins Spital musste. Dort kam alles wieder hoch. Alles war genauso, wie bei meinem Mann. Es hiess, man könne nichts mehr für ihn tun und fragte, wo er sterben wolle. Zu Hause, sagte er. Das gehe nicht, er müsse in ein Hospiz. Ich sagte zu ihm: Ich werde für dich sorgen, bis dass der Tod uns scheidet. Das war vor zweieinhalb Jahren.
Ich war etwa jedes dritte Wochenende vier bis fünf Tage bei Markus. Ich kochte vor allem Gesundes und Sättigendes, seine Lieblingsgerichte, für ihn, weil er sehr geschwächt war. Auch konnte er mit dem Sauerstoffgerät nicht mehr gut aus dem Haus gehen. Ich brachte ihm die äussere Welt in seine Wohnung. Informiert war er aber selbst, er las täglich die Neue Zürcher Zeitung, eine internationale Zeitung und eine Regionalzeitung. Wir diskutierten und lachten viel.
Langsam wurde uns beiden klar, dass wir uns sehr, sehr gerne haben.
Vielleicht hatten wir einander nötig. Ich habe mich bei ihm erholt, fand hier eine emotionale Basis. Als Junggeselle war er gerne allein, aber freute sich, wenn ich bei ihm war. Bevor wir jeweils Abschied nahmen, war meine nächste Ankunft schon beschlossen. Langsam wurde uns beiden klar, dass wir uns sehr, sehr gerne haben. Wir telefonierten täglich.
Schliesslich bin ich geblieben. Die letzten drei Monate brauchte er mich einfach. Seine Sehkraft liess nach, wobei unklar blieb, ob das der Star, Metastasen im Gehirn oder vielleicht die Folgen eines leichten Schlaganfalls waren. Auch lief er schlechter, und er konnte keine langen Wörter mehr lesen. Einmal fragte er mich sogar, wie ich heisse. Ich hatte keine Mühe damit. Schliesslich liebt man den Kern eines Menschen und nicht, was er tut.
Ja, es ist eine Liebesgeschichte. Wir wussten, wir haben wenig Zeit. Wir wussten, wir werden getrennt. Wir machten uns keine Illusionen. Das Wichtigste im Leben ist die Liebe. Mit der Zeit wurde auch für ihn Zärtlichkeit immer wichtiger.
Es war für uns beide ein Geschenk.
Ohne mich wäre es nicht gegangen. Ohne mich hätte er nicht so lange gelebt. Er sagte jeden Tag Danke, Danke, Danke. Es war für uns beide ein Geschenk. Für mich war es eine Lebens- und keine Sterbebegleitung.
Markus wurde drei Jahre von der lokalen Spitex ausgezeichnet betreut und konnte so selbstständig wie möglich leben. Sie kannten ihn. Ihm war wichtig, zu Hause zu bleiben bis zum Schluss, keine Schmerzen zu leiden und nicht zu ersticken. In den letzten vier Wochen kam Onko Plus dazu. Ohne deren Mitarbeitende hätte ich es nicht machen können. Sie halfen mir fast mehr als ihm. Die Pflegenden waren sehr sorgfältig in der Anamnese, beim Untersuchen und Informieren. Ich konnte jederzeit anrufen und um Rat fragen. Man ist keine Nummer, sondern das kleine Team sucht individuelle Lösungen. Eine private Nachtwache war nur die letzten zehn Tage nötig.
Am Schluss wollte er nicht mehr allein sein. Bis am Ende haben wir beide, jeder auf seine Weise, dem anderen unsere Liebe zeigen können.
Ich sagte, ich halte dich nicht zurück, und legte seine Hand in meine offene Hand.
Aber am vorletzten Tag gab es nochmals eine Änderung: Er lehnte bisweilen jeden Hautkontakt ab, der vorher so wichtig war. Das war schwierig für mich, bis ich hörte, dass eine Berührung einem sogar wehtun kann, wenn man im Sterben liegt. Man muss aufmerksam sein in dieser Phase. Ich sagte, ich halte dich nicht zurück, und legte seine Hand in meine offene Hand. So ist er ohne Schmerzen, ohne Ersticken, zu Hause gestorben, ganz friedlich, ich neben ihm.»
* Name geändert
Dieser Text ist in einer gekürzten Version im Jahresbericht 2016 von Onko Plus erschienen.