Das Dilemma
09.08.17
Charlotte Liedtke hat sich im Terrassenhaus, das sie mit ihrem Mann bewohnt, im untersten Stock ein Atelier eingerichtet (Bild: sa).
Charlotte Liedtke muss wegen ihrer Arthrose starke Schmerzmittel einnehmen. Mit dem Malen hat die 84-jährige Künstlerin wegen ihrer körperlichen Verfassung aufgehört. Eigentlich.
Charlotte Liedtke befindet sich in einem Dilemma. Die 84-jährige Kunstmalerin aus Wettswil hat kürzlich ihr Karriereende mit einer grossen Ausstellung gefeiert. Viele Leute sahen sich ihre abstrakten Bilder und die Skulpturen einer befreundeten Künstlerin an. Viele Werke wurden verkauft. «Nicht ein kleines bisschen ging schief», sagt Liedtke zufrieden. Sie sitzt in ihrem Wohnzimmer auf dem Sofa, sommerlich elegant gekleidet, das Haar perfekt frisiert, der Blick spitzbübisch. Eigentlich hat sie aufgehört mit Malen. Sie hat auch keine Galerie mehr, die sie vertritt. Denn die Schau war für ihre Galeristin ebenfalls ein Abschluss. Auch sie legt ihre Tätigkeit nieder.
«Wissen Sie, Malen ist auch Leiden.»
Liedtke fühlt sich aber «wehmütig und traurig». Denn Malen ist für sie ein elementares Bedürfnis. «Es ist fast lebenswichtig», sagt sie. Es handelt sich nicht um einen Zeitvertreib, sondern die Kunst ist Berufung und Herausforderung zugleich. Sie müsse so lange an einem Bild arbeiten, bis es fertig sei, sonst sei es «futsch». Sie könne keine Pausen einlegen. «Wissen Sie, Malen ist auch Leiden.» Früher, als ihre Kinder noch klein waren, malte sie nach getaner Hausarbeit in der Nacht, häufig bis in die frühen Morgenstunden. «Vielleicht habe ich mir meine schlechte körperliche Verfassung selbst eingehandelt.»
Die Kunstmalerin leidet an unerträglichen Schmerzen, verursacht durch Arthrose in Hüft- und im Kniegelenk. Auch der Rücken schmerzt. Nachdem sie und ihr Ehemann feststellten, dass Operationen nicht mehr machbar sind, suchten sie Rat bei Schmerzspezialisten. Fündig wurden sie schliesslich in der «Villa», der Palliativstation des Spitals Affoltern am Albis. Die Palliativmediziner brachten es mit starken Opiaten fertig, dass Charlotte Liedtke wieder Lebensqualität geniessen kann, und die Schmerzen sie nicht zermürben. Die starken Mittel aber verringern ihre Muskelspannung. Das heisst, sie beugen ihre Wirbelsäule.
Das ist kein unwichtiges Detail, wenn man weiss, auf welche Weise die Künstlerin ihre abstrakten Bilder malt: Sie hat sich im Terrassenhaus, das sie mit ihrem Mann bewohnt, im untersten Stock ein Atelier eingerichtet. Sie steht dann vor der Leinwand, die auf Böcken liegt. Die Farben, die sie teilweise in grossen Mengen aufträgt, müssen ineinanderfliessen können. Sie steht also gebückt vor ihrem Werk. «Heute fehlt mir die Kraft für ein grosses Bild», sagt sie. Im Hinblick auf die Jubiläumsaustellung diesen Frühsommer, die «40 Jahre kreatives Schaffen» der Künstlerin und ihrer Galeristin würdigte, stellte sie auf kleinere Formate um: In nur wenigen Monaten produzierte sie dafür vierzig kleinere Bilder, die wie eine Art Tagebuch aus ihrem Leben erzählen.
«Der Beginn war härter, als man denkt. Man glaubt ja, man könne das grad.»
Charlotte Liedtke wuchs in einem kleinen Dorf am Bielersee auf, was man ihrem Dialekt noch immer anhört. Ihr Traum wäre gewesen, Modezeichnerin zu werden. Dass die Tochter eines Kleinbauern in Biel eine kaufmännische Lehre machte, sei damals bereits eine kleine Revolution gewesen, erzählt sie schmunzelnd. Nach der Lehre ging sie nach England. Wirklich begonnen zu malen habe sie erst, als sie bereits mit Heinz Liedtke verheiratet war. Er ermutigte sie dazu. «Der Beginn war härter, als man denkt. Man glaubt ja, man könne das grad. Aber dem war nicht so. Zudem ist abstrakt gar nicht so einfach. Man muss alles aus der Fantasie holen.» Liedtke ging bei namhaften Künstlern in die Schule. Vierzig Jahre lang hat sie sich seither künstlerisch weiterentwickelt.
Noch stehen in ihrem Atelier grosse, leere Leinwände. Liedtke wollte sie ihrer Tochter schenken, die fotorealistisch malt. Diese wimmelte jedoch ab. Die Mutter solle sie nur noch selber bemalen. «Alle sagen mir, ich solle einfach weiterfahren, aber ich weiss nicht, ob ich dazu noch die Kraft habe», sagt sie. Die vielen Treppen hinunter in ihr kreatives Reich meistert sie immer noch selbst – mit Hilfe eines Gehstocks. Die Anschaffung eines Treppenlifts ist jedoch beschlossene Sache.
Ihr Ehemann, der während des Gesprächs neben ihr auf dem Sofa, aber etwas im Hintergrund sitzt, sagt, sie hätten sich gegen einen Umzug in eine rollstuhlgängige Wohnung entschieden. «Wir leben jetzt kopflos in den Tag hinein», witzelt er. Was er damit meint: Man hätte Charlotte Liedtke nur mit Mühe aus diesem grosszügigen Haus herausgebracht. Denn wie eine Schatztruhe birgt es in jedem Winkel ein Kunstwerk einer anderen Künstlerin oder eines anderen Künstlers. In jeder Ecke hängt ein Bild oder steht eine Skulptur. Alles ist sorgfältig platziert. Die Künstlerin ist gleichzeitig auch Kunstsammlerin.
«Ein Bild für ein paar Tausend Franken zu kaufen, ist das ehrlichste Kompliment.»
Ganz so sorglos wie gewünscht gestalten die Liedtkes ihre Tage nicht: Manch einen geplanten Urlaub mussten sie absagen. Doch der Sommerhitze können sie auch in ihrem Garten entfliehen.
Heinz Liedtke ist der grösste Fan seiner Frau. Er berichtet begeistert von mehreren Personen, die während der Ausstellung extra angereist seien, um noch eines oder mehrere ihrer Bilder zu kaufen. «Ein Bild für ein paar Tausend Franken zu kaufen, ist das ehrlichste Kompliment», sagt er, der neun Jahre jünger ist als sie. Das Schöne sei, das von ihr einst so viel bleiben würde auf der Welt. Was er selber geschafft habe, sei bereits in alle Winde zerstreut. Der ehemalige IBM-Manager ist gleichzeitig ihr ehrlichster Kritiker. Fertige Bilder zeigt sie zuerst ihm. Er könne beurteilen, ob es als Ganzes wirke und eine Farbkombination gelungen sei.
Seit sie krank ist, kümmert er sich rührend um sie, vergisst sich dabei aber selbst nicht. Er trifft auch mal Freunde zum Mittagessen oder macht allein eine kurze Städtereise, auf der sie ihn nicht mehr begleiten kann.
«Ich möchte es einfach haben, auf meinem Weg zum Sterben.»
Alle zwei Wochen schaut Onko-Plus-Mitarbeiter Olaf Schulz bei Charlotte Liedtke vorbei. Er kontrolliert ihre Symptome und macht Vorschläge, wie Übelkeit, depressive Gefühle oder neue Schmerzspitzen zu meistern sind. Zusammen mit dem Hausarzt und dem Arzt in der «Villa» schafft er ein Betreuungsnetz, das den Liedtkes eine so grosse Sicherheit wie möglich gewährt in ihrer selbst gewählten Autonomie. Die beiden sind Feuer und Flamme für Schulz. Ein super Typ sei er. Was er sage, habe Hand und Fuss. Er bringe Lösungen, die funktionierten. Zudem könne er sie auch trösten, wenn sie einmal niedergeschlagen sei. «Das Grösste aber war», sagt Charlotte Liedtke strahlend, «dass Herr Schulz an die Vernissage meiner Ausstellung gekommen ist».
Die Ausstellung war ein Höhepunkt für die Künstlerin. Der viele Trubel, der Zuspruch – Liedtke verkaufte wirklich gut – und das Drumherum haben sie beflügelt, ihr neuen Auftrieb gegeben. Jetzt aber ist alles vorbei. Ohne Galerie fehlt ihr die Motivation für eine weitere künstlerische Arbeit. «Kann ich noch verkaufen?» fragt sie sich. Sie sei schliesslich Kunst- und keine Hobbymalerin. «Ich weiss, dass du wieder damit beginnst», lässt sich ihr Mann aus dem Hintergrund verlauten. Sie habe früher so wunderbar aquarelliert. Vielleicht wäre das eine einfachere Möglichkeit?
Was wünscht sich Charlotte Liedtke? «Dass ich es einfach habe auf dem Weg zum Sterben, auf dem ich bin. Ich will wegen der Schmerzmedikamente nicht weiter verkrüppeln, und ich möchte mit meinem Mann zusammen sein.» Sie denkt nach und fügt an: «Und ich möchte noch ein bisschen malen können.»