«Das Gegenüber fehlt»

26.09.18

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Heinz Liedtke (75) sagt: «Ich bin kein Held, habe meine Frau eigentlich nicht gepflegt, ich habe einfach sichergestellt, dass sie Hilfsmittel wie einen Rollator hatte und die Spitex kommt.» Er kümmerte sich aber liebevoll um sie, machte vor dem Einschlafen Atemübungen, um sie zu beruhigen, sprach mit ihr darüber, was nach dem Tod kommt. Das habe ihr geholfen. Die Aufnahme ist vom Juli 2017. (Bild: sa)

Heinz Liedtke hat seine Frau in den letzten Jahren intensiv unterstützt, als sie an starken Arthrose-Schmerzen und den Nebenwirkungen der Medikamente litt, die sie dagegen nahm. Die 84-Jährige, die sich als bildende Künstlerin einen Namen gemacht hat, beendete ihr Leben selbst. Ihr Mann begleitete sie auch auf diesem Weg. Das ist sein Bericht.

«Mir geht es gut. Ich habe erst nach dem Tod realisiert, dass ich Erholung brauchte. Es ging etwa drei Wochen, und ich hatte wieder mehr Energie. Das merkte ich daran, dass ich eine Stunde früher wach und ausgeschlafen war.

Das heisst nicht, dass ich keine Trauerphasen durchmache. Aber Charlotte war in einem so schlechten Zustand, dass sie selbst gehen wollte. Sie hatte ja null Lebensqualität mehr. Es war ihr tagelang übel, sie mochte kaum noch essen. Wegen der Opioide war sie entweder verstopft oder hatte Durchfall. Sie bekam erneut Restless Legs, musste ein zusätzliches Medikament nehmen. Sie nahm auch etwas gegen Asthma. Ach, zum Schluss schluckte sie zirka 25 verschiedene Medikamente.

Sie war nicht im engeren Sinne todkrank: Sie hätte die Hüfte operieren müssen, weil sie an wahnsinnigen Arthrose-Schmerzen litt. Sie hatte zudem eine Spinalkanal-Verengung und Schmerzen im Knie. Das Ganze begann vor zehn Jahren, man nahm es zu Beginn einfach nicht so ernst.
Sie musste in dieser Zeit mehrere schwere Operationen über sich ergehen lassen, eine am Darm wegen Divertikulitis. Damals kam es zu Komplikationen, sie war drei Wochen statt zehn Tage im Spital. Vor acht Jahren hatte sie Brustkrebs, musste eine Brust entfernen und die andere operieren lassen. Der Krebs war danach zwar verschwunden, aber er hatte sie ziemlich geschwächt. Bei der Bestrahlung beziehungsweise beim Röntgen fand man einen ganz kleinen Tumor auf der Lunge, der wuchs in den folgenden zwei Jahren auf 2.5 Zentimeter an. Er wurde schliesslich minimalinvasiv entfernt. Es lief alles gut, und es hiess, er habe nichts mit jenem in der Brust zu tun. Charlotte galt als geheilt, aber hatte spürbar weniger Lebenskraft.

«Ich bin verzweifelt. Ich kann nicht mehr stehen.»
Charlotte Liedtkes Eintrag im Tagebuch

Im Juli wäre sie 85 Jahre alt geworden. Zwar meinten die Ärzte, eine Hüftoperation sei heute auch in diesem Alter möglich. Aber ich und auch Charlottes Physiotherapeutin, die sie sehr gut kannte, bezweifelten das. Wir sahen den Eingriff als Risiko an und entschieden uns, den palliativen Weg zu gehen. Ich kannte Roland Kunz, der im Spital Affoltern am Albis die Palliativstation aufgebaut hat. Seit sie vor zwei Jahren auf der Palliativstation war – und ich sage nicht, dass sie es dort nicht gut gemacht haben, im Gegenteil –, kämpfte sie mit den Nebenwirkungen der starken Medikamente. Die haben ihr geschadet.  Ohne die Opioide ging es aber auch nicht mehr, die Schmerzen waren grässlich. Zum Schluss war ihre Haltung ganz gekrümmt, weil diese Schmerzmittel den Muskeltonus schwächen. Charlotte konnte nicht mehr aufrecht stehen oder sitzen, sie sackte immer ein bisschen zusammen.

Dazu kam ihr Alter. Ihre Mutter wurde 93 Jahre alt. Charlotte hatte Angst, dass sie ebenso alt werden würde, weil sie organisch nicht krank war, in einem Pflegeheim liegen oder zu Hause 24 Stunden lang betreut werden müsste. Am Schluss schrieb sie in ihr Tagebuch: «Ich bin verzweifelt. Ich kann nicht mehr stehen.» Wir liessen zwar einen Treppenlift einbauen. Bettlägerig zu werden, nicht mehr selbst auf die Toilette zu gehen, wäre für sie ein dramatischer Schritt gewesen. Sie hatte bisher nur die Spitex, die sie morgens und abends beim An- und Abziehen sowie beim Duschen unterstützte.

In Bezug auf den Todeswunsch meiner Frau half mir, dass ich den Lauf des Lebens und so auch den letzten Wunsch meiner Frau akzeptieren konnte. Ein bisschen Egoismus spielte wohl auch mit. Ich dachte: Mein Gott, wie wird das werden, wenn sie nur noch liegen kann? Was heisst das für sie? Was heisst das für mich? Nicht einmal mehr wegen der anfallenden Arbeit, sondern wegen des psychischen Drucks. Sie wäre unglücklich gewesen.

Wenn ich aber doch einmal zurückdenke, versuche ich, glückliche Momente heraufzubeschwören, als sie noch jung war. Sie sah so gut aus.

Ich versuchte, meiner Frau Kraft zu geben, Mut und Zuversicht, dass es gut kommt und ich hinter ihrem Wunsch stehe. Sie hatte Exit nämlich schon vor längerer Zeit ins Spiel gebracht. Wir prüften andere Varianten wie Sterbefasten, beraten von der Palliativstation. Dazu war sie aber zu wenig schwach, sie hätte nicht mehr trinken dürfen und wusste: Das zieh ich nicht durch. Zum Schluss war sie nochmals in der Klinik, um ihren Zustand zu verbessern, dort reifte ihre Entscheidung, ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen.

Ich bin dankbar dafür. Gerade dieser Hitzesommer wäre schwierig gewesen für sie. Sie hätte immer drinbleiben müssen, im Dunkeln. Unseren kleinen Pool konnte sie schon lange nicht mehr nutzen. Sie hatte noch so viele ungelesene Bücher. Wenn sie zu lesen begann, nickte sie immer ein. Es war ihr immer schwindlig von den Medikamenten.

Ich schaue generell nicht gerne zurück, sondern lebe im Jetzt. Wenn ich aber doch einmal zurückdenke, versuche ich, glückliche Momente heraufzubeschwören, als sie noch jung war. Sie sah so gut aus. Wir machten immer schöne Reisen und genossen unsere Ferien. Viele Ehepaare haben im Urlaub ja Krach, bei uns war es immer wie Honey Moon.

Vor allem die letzten 14 Tage vor ihrem Tod waren wie Warten auf die Hinrichtung.

Wenn ich an ihre letzte Zeit denke, ist das eher mit Schmerz behaftet. Das versuche ich zu vermeiden. Vor allem die letzten 14 Tage vor ihrem Tod waren wie Warten auf die Hinrichtung. Das hat uns beide belastet. Charlotte hat diese Frist sogar noch abgekürzt. Sie hatte mit der Sterbebegleiterin von Exit den Termin auf einen Donnerstag gelegt. Sie halte es nicht mehr aus, sagte Charlotte plötzlich, sie wolle sofort gehen. Da war noch ein Wochenende dazwischen, am Montag darauf haben wir es dann getan.

Die Pfarrerin, die Charlottes Verabschiedung gestaltete, war zuvor noch zwei Stunden bei ihr. Charlotte verfasste selbst einen vierseitigen Lebenslauf, den diese verwenden konnte. Von einigen Leuten verabschiedete sie sich persönlich, von den meisten nicht mehr. Sie empfand das als zu belastend. Die Kinder sah sie nochmals, auch unsere Enkel. Die waren übrigens ganz verstört, als sie kurz darauf starb. «Jetzt war doch Meme da, sah gut aus und war gut zwäg», sagten sie. Interessanterweise blühte sie eine Woche vor ihrem Tod nämlich nochmals auf, mochte wieder essen. Das sei häufig so, sagte man mir.

Charlotte ging relativ mutig in diese ganze Sache hinein. Die Sterbebegleiterin von Exit kam und legte ihr einen intravenösen Zugang für das Sterbemittel. Charlotte musste nochmals unterschreiben, dass sie es freiwillig macht und urteilsfähig ist. Dann musste sie üben, ob sie das Hähnchen drehen kann, zuerst einmal mit Kochsalzlösung. Danach wurde das definitive Mittel angehängt. Das war schon ein sehr schwieriger Moment. Innerlich wollte ich still sein, Frieden und Zuversicht ausstrahlen für Charlotte. Dann drehte sie das Hähnchen. Nach einer Minute schlief sie ein. Nach drei Minuten hörte das Herz auf zu schlagen. Das ging also relativ schnell.

Ich hielt Charlotte, sie wollte in meinen Armen sterben. Danach wuschen wir sie zusammen und zogen sie schön an.

Wir hatten grosse Hilfe durch unsere (Physio-)Therapeutin. Wir kennen sie schon 17 Jahre, waren beide Patienten bei ihr. Um Charlotte zu behandeln, kam sie jeweils zu uns nach Hause. Wir waren uns auch privat nahe. Sie war die Einzige, die ausser mir bei Charlottes Tod dabei war. Sie war neben mir und legte ihre Hand auf meine Schulter. Das gab mir eine enorme Stütze. Ich hielt Charlotte, sie wollte in meinen Armen sterben. Danach wuschen wir sie zusammen und zogen sie schön an. Unsere Freundin holte noch Blumen im Garten und legte sie ihr in die Hand. Ich habe danach 24 Stunden neben ihr gewacht, meditiert. Dazwischen habe ich auch geschlafen und immer wieder den Wecker gestellt. Unsere Therapeutin war dabei, als der Bestatter Charlottes Körper abholte. Sie wollte mich nicht alleine lassen.

Ich praktiziere seit 15 Jahren Zen-Meditation. Ich habe aufgrund dieser Erfahrungen vieles verändert in mir und in meinem Leben. Ich bin innerlich ruhig geworden, gelassen, und es gelingt mir oft, im Augenblick zu leben. Es gibt dennoch Momente, in denen ich wegen Charlotte plötzlich traurig werde und weine. Aber meine Meditationspraxis hat mich gelehrt, dass man relativ wenig in der Hand hat im Leben, und Vieles geschehen lassen und akzeptieren muss. Ein Freund von mir sagt immer: Wenn du einfach alles akzeptierst, ist das Aufgabe. Ich aber sage: Das ist Hingabe. Wenn das Leben eine bestimmte Situation geschaffen hat, die ich nicht ändern kann, ist es Unsinn dagegen zu kämpfen. Ich muss es akzeptieren. Dann habe ich die Hände und den Kopf frei für etwas Neues.

Bezogen auf Charlottes Krankheit haben wir in der letzten Zeit statt einer schönen Reise kleinere Ausflüge gemacht, etwa zum Kloster Kappel. Das konnte sie geniessen, auch wenn es nur ein, zwei Stunden statt zwei Wochen gedauert hat. Das sind Alternativen, die einem aufgehen, wenn man in einer Situation nicht hadert, sondern sie akzeptiert. Charlotte haderte schon ein bisschen mehr als ich, aber ich kann auch leicht reden. Sie war ja direkt betroffen, sie hatte ja die Symptome.

Wenn sie abends nicht  Fernsehen schaute, sass ich neben ihr, obwohl mich der Inhalt des Gezeigten nicht interessierte. Sie sollte nicht allein sein.

Ich bin kein Held, habe meine Frau eigentlich nicht gepflegt, ich habe einfach sichergestellt, dass sie Hilfsmittel wie einen Rollator hatte, dass die Spitex kommt. Auch Herr Schulz von Onko Plus hat uns super unterstützt. Er kam alle 14 Tage vorbei, und ich war immer dabei. Charlotte war seit Jahrzehnten schwerhörig. Ich kochte immer und schaute, dass es ihr wohl ist. Wenn sie abends nicht mehr lesen mochte und sie deshalb Fernsehen schaute, sass ich neben ihr, obwohl mich der Inhalt des Gezeigten nicht interessierte. Sie sollte nicht allein sein. Nachts, bevor sie einschlief, setzte ich mich an ihr Bett. Wir übten zusammen, uns auf den Atem zu konzentrieren wie beim Meditieren. Das hat sie mit der Zeit geschätzt, das hat sie vor dem Einschlafen beruhigt. Solche Dinge.

Zum Schluss hatte sie grosse Angst, was nach dem Tod kommt. Wir sprachen viel darüber, und das half ihr. Dazu nahm ich mir viel Zeit, sagte viele Termine ab. Wir hatten auch praktisch keinen Besuch mehr. Zwei, drei Mal versuchten wir es noch und ich kochte. Als sie aber um 21 Uhr am Tisch einschlief und sich ins Bett verabschiedete, war das für alle nicht lustig.

Eine unserer Enkelinnen, die 11 Jahre alt ist, litt nach Charlottes Tod schwer. Eines Abends rief sich mich an und präsentierte mir einen Plan: Wir sollten diesen Sommer noch einmal «Memes» Geburtstag feiern. Sie wollte bei mir Kuchen essen, zusammen auf den Friedhof gehen, ein bisschen weinen am Grab und dann zurückkommen, ins Wasser springen. Das ist doch herrlich, Tod und Leben, Trauer und Freude so nah beieinander! Das haben wir ganz ähnlich tatsächlich gemacht. Die erwachsenen Enkel haben frei genommen im Geschäft, ich habe einen Apéro riche gemacht, wir sassen noch lange beieinander und stiessen auch auf die 11-Jährige an, die so eine tolle Idee gehabt hatte.

Wenn ich so einen schönen Brief öffnete, dachte ich manchmal: «Oh, den muss ich Charlotte zeigen!»

Alles, was mit dem Tod zusammenhing, lief – das klingt jetzt blöd – super. Ich bekam 140 Briefe, die ich alle beantwortete. Eine Frau schickte mir noch Fotos von Charlottes Bildern, die bei ihr hängen. Von ihren Bildern war in den Zuschriften sowieso oft die Rede. 80 Prozent der Bekannten besitzen ja Kunst von ihr. Wenn ich so einen schönen Brief öffnete, dachte ich manchmal: «Oh, den muss ich Charlotte zeigen!» Eine Zehntelsekunde später wurde mir bewusst, dass sie nicht mehr da ist. Das sind kleine Nadelstiche. Das finde ich im Moment das Schwierigste, dass ich solche Dinge mit niemandem mehr teilen kann, dass kein Gegenüber mehr da ist. Das fehlt.»

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