«Eigentlich wollte er zum Sterben ins Spital»

12.07.17

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«Ich habe mich auf eine Art selber vergessen», sagt Y. B. Sie hat ihren Mann während eineinhalb Jahren gepflegt (Bild: sa).

K. B. litt an einem bösartigen Brustfell-Tumor, verursacht durch Asbest. Der 84-Jährige starb daheim, obwohl er mit seiner Frau besprochen hatte, dass er am Ende ins Spital gehen würde. Es sei eigentlich ganz gut gegangen zu Hause, sagt sie. Jetzt ist sie zufrieden, dass sie ihm das ermöglichen konnte.

Einmal, als es K. B. ganz schlecht ging, rief seine Frau die Ambulanz. Er konnte seit Tagen nicht mehr auf die Toilette gehen. Im Spital untersuchte man ihn – und stellte ihn wieder vor der Tür. «Ich erinnere mich gut an den Tag. Es war kalt und regnete. Er rief mich um fünf Uhr abends an und sagte, ich solle ihn abholen.» Zu Hause konnte er nicht einmal mehr die Treppe hinaufgehen, so schwach war er. «Ich hatte so ein schlechtes Gewissen.» Von da ging es rasant abwärts.

Ab diesem Zeitpunkt – rückblickend weiss Y. B., dass es drei Wochen vor seinem Tod war – meldete sie ihn bei der Spitex an und bestellte ein Pflegebett. «Er freute sich noch, dass er sich am Bügel wird hochziehen können. Aber dafür war er bereits zu schwach.» Eine Bekannte holte Onko Plus dazu. «Ich war total erleichtert und dankbar», sagt die Witwe. Onko-Plus-Konsiliarärztin Monika Jaquenod kam zwei Mal vorbei. «Sie wusste, was es braucht.» Die Palliativärztin verschrieb B. in den letzten Tagen Morphin und richtete eine Schmerzpumpe ein.

Wo kam er mit Asbest in Kontakt?

K. B. erhielt mit 83 Jahren die Diagnose malignes Mesotheliom. Das ist ein aggressiver Tumor im Brustfell, im Volksmund wird er «Asbest-Krebs» genannt (siehe Box zum Thema Asbest). Das Besondere daran war, dass er nicht etwa auf dem Bau oder als Schreiner gearbeitet hatte, sondern nach einer Lehre als Maschinenschlosser nur noch im Büro tätig war, als Grafiker. «Er hatte Talent», erzählt seine Frau. Er bildete sich on the Job weiter, konzipierte für einen Rüstungskonzern Ausstellungen und entwarf Schriften. Später machte er sich mit einem Bekannten zusammen selbstständig. Die beiden gestalteten Verpackungen, entwarfen Signete und vieles mehr. Später spezialisierte er sich auf technische Zeichnungen für Patente und arbeitete bis drei Jahre vor seinem Tod.

Wo er mit Asbest in Kontakt kam, fand man nie ganz heraus. Obwohl die Suva dies in einem zweistündigen Gespräch versucht hatte. «Wenn ein Fall der Suva gemeldet wird, erfolgt eine eingehende Abklärung, insbesondere eine ausführliche Arbeitsanamnese», sagt Serkan Isik, Mediensprecher der Suva, auf Anfrage. Herr B. sei als Jugendlicher mit höchster Wahrscheinlichkeit bei der Tätigkeit als Schlosser Asbest gegenüber exponiert gewesen. Deshalb habe man den Fall auch übernommen. Die Suva kam vollumfänglich für die medizinischen Behandlungskosten, die Pflegeleistungen und die Medikamente auf. Sie hat ausserdem eine Entschädigung sowie eine Hinterlassenenrente entrichtet.

Es gebe Tätigkeiten, von denen sie wüssten, dass diese früher mit Asbestkontakten verbunden waren, «auch wenn dies dem Versicherten selber nicht unbedingt bekannt war oder er sich nicht mehr erinnern kann», so Isik. Dass die Suva den Fall als Berufskrankheit übernommen habe, zeige, dass mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine berufliche Asbestexposition bestanden habe. «Anders als beim Lungenkrebs kann bereits eine geringe Asbestexposition zu einem malignen Mesotheliom führen. Eine Latenzzeit von 50 Jahren ist beim Asbest nicht aussergewöhnlich.»

Ein paar Monate bis zwei Jahre

Ihr Mann habe nicht mit seinem Schicksal gehadert, sondern die Krankheit akzeptiert, erzählt Y. B. «Er sagte, es gebe viel Schlimmeres. Er sei schliesslich alt geworden.» Der Chirurg, der das Paar über die Krankheit aufklärte, schenkte ihnen reinen Wein ein. Er diagnostizierte eine Lebenserwartung von ein paar Monaten bis zu zwei Jahren. Als die Ehefrau der Arzt fragte, ob ihr Mann ersticken müsse, verneinte dieser knapp. Weitere Fragen zum Sterben waren dem Mediziner sichtlich unangenehm. Das Paar stellte sie deshalb nicht.

K. B. lebte noch eineinhalb Jahre, «relativ gut», wie seine Frau sagt. Nur beim Gehen hatte er Mühe und brauchte einen Stock. Trotzdem wollte er oft alleine ins Spital zur Kontrolle fahren.

Der Patient beklagte sich nie, war ohnehin ein eher ruhiger Typ. Auch über das Sterben sprach er nicht intensiv mit seiner Frau. Sie einigten sich darauf, dass er ins Spital eintrete, «wenn es schlechter geht». Es kam aber anders: Die Witwe, die selbst bereits 81 Jahre alt ist, aber jünger wirkt, sagt: «Es ging eigentlich ganz gut zu Hause. Ich machte das irgendwie. Ihn zu pflegen, machte mir nichts aus. Auch das Saubermachen nicht. Ich konnte viel lernen von der lokalen Spitex.»

Nur noch schnell zum Einkaufen aus dem Haus

Trotzdem belastete die Verantwortung die Ehefrau auch, wie sie rückblickend sagt. «Ich habe mich auf eine Art selber vergessen. Aus einem überbordenden Pflichtgefühl heraus dachte ich, ich müsse immer neben seinem Bett stehen.» Als es ihm noch besser ging, machte sie zum Ausgleich noch regelmässig Spaziergänge im Wald oder auf dem Albis. Später, als er in einem Notfall nicht mehr hätte telefonieren können, ging sie jeweils nur noch schnell einkaufen.

Zu dieser Zeit verspürte sie einmal ein Herzrasen: Ihr Herz klopfte wie wild, und sie rief ihren Hausarzt in Zürich an, ob er ihr ein Beruhigungsmittel verschreiben könne. Sie müsse vorbeikommen, beschied dieser. Als sie mit dem Zug von ihrer Wohngemeinde im Sihltal nach Zürich fuhr, entwickelte sich die Nervosität zu einer regelrechten Panikattacke. Sie stellte sich vor, wie ihr Mann zu Hause aus dem Bett fällt und ohne sie stirbt. Sie erhielt pflanzliche Beruhigungsmittel, und mit ihrem Mann war zu Hause noch alles in Ordnung.

Monika Jaquenod, die Konsiliarärztin von Onko Plus war es, die Y. B. sagte, dass ihr Mann in einer der nächsten zwei Nächte sterben könnte. Die Ehefrau glaubte es nicht. «Ich habe es nicht erwartet. Ich konnte ja noch reden mit ihm.» Er war bis zu seinem Tod klar im Kopf und ansprechbar. Er las bis etwa zwei Tage vorher noch Bücher. Die habe er sich bis zum besagten Regentag auch noch selbst in der Bibliothek besorgt. Nachher holte ihm seine Frau den Lesestoff. «Er sagte bei fast Allem, was ich brachte, das habe er bereits gelesen.»

Er bekam ganz grosse, starre Augen

«Er hatte dann dieses Karcheln, obwohl er fast mehr sass als lag. Ich sagte ihm noch, spuck es aus, und hielt ihm ein Becken hin. Er bekam ganz grosse, starre Augen und schaute mich an. Er atmete drei Mal ruckartig aus. Ich konnte ihn grad noch um die Schultern fassen und wusste: Jetzt ist es soweit.» Y. B. erzählt traurig, aber gefasst. Sie habe sich ja eineinhalb Jahre auf diesem Moment vorbereiten können. Auch wenn die Abmachung anders lautete, ist die Witwe froh, dass ihr Mann schliesslich zu Hause gehen konnte.

Gut vier Monate nach dem Tod ihres Mannes ist die Witwe noch daran, sich zu erholen. Sie hat in der letzten Zeit zehn Kilogramm abgenommen, dazu kommen Verdauungsprobleme. Zusammen mit ihrem Hausarzt versucht sie, der Ursache auf den Grund zu gehen. Sie hat sich inzwischen bei einem Allgemeinpraktiker in der Nähe gemeldet, der auch Hausbesuche machen würde.

Y. B. geniesst aber auch die wiedergewonnene Freiheit. Sie nimmt an Seniorenwanderungen teil und engagiert sich wie früher in der Kulturgruppe. «Ich bin froh, dass ich nicht mehr auf die Zeit schauen muss.»

 

Asbest – die gefährliche Faser

Asbest galt lange Zeit in der Industrie als «Material der tausend Möglichkeiten», wie es in einem Prospekt der SUVA heisst. Er besitzt wie keine andere Faser optimale Eigenschaften für viele technische Produkte. Platten, Matten oder Formmassen, die Asbest enthalten, wurden zum Beispiel im Bau als Brandschutz und Wärmeisolation sowie im Fahrzeugbau als Brems- und Kupplungsbeläge eingesetzt. Bei der Verarbeitung von Asbest entstehen feinste Fasern, die eingeatmet werden können. Gelangt Asbest in die Lungenbläschen, werden die dünnen Fasern, die sich noch weiter aufspalten, nur teilweise abgebaut oder ausgeschieden. Durch aggressive Stoffe, mit denen die Immunabwehr vergeblich versucht, die Fasern aufzulösen sowie durch direkte mechanische Wirkung entstehen Schäden an Gewebe und Erbmaterial von Zellen. Bereits eine geringe Konzentration von Asbestfeinstaub in der Luft kann das Risiko für ein Mesotheliom in Brust- oder Bauchfell oder von Lungenkrebs fördern.

Verbot seit 1990

Asbest kann Asbestose (Staublunge), ein Bronchialkarzinom (Lungenkrebs) oder eben einen bösartigen Tumor im Bauch- oder Lungenfell verursachen, wie ihn K. B. hatte. Ab 1940 wurden die ersten Untersuchungen für Arbeiter eingeführt, die ständig mit Asbest zu tun hatten. Ende der 1950er-Jahre vermutete man erstmals, dass es einen Zusammenhang zwischen dem bösartigen Lungenfelltumor und Asbest geben könnte. Die Suva begann die Unternehmen stärker zu kontrollieren, die Asbest verarbeiteten. Erst 1990 setzte der Bundesrat ein generelles Asbestverbot in Kraft.

Die Zeit, bis das maligne Mesotheliom ausbricht, beträgt in der Regel zwischen 20 und 40 Jahren. Wegen dieser langen Latenzzeit erkranken auch heute noch Angestellte, die früher beruflich mit Asbest zu tun hatten. Seit 2010 werden im Schnitt um die 100 Mesotheliom-Fälle pro Jahr gezählt, die neu auftreten. Erkrankungen, die durch die berufliche Tätigkeit oder durch schädigende Stoffe dabei verursacht werden, gelten als Berufskrankheiten und sind gesetzlich den Berufsunfällen gleichgesetzt. Versicherte, die beim letzten Asbestkontakt bei der Suva versichert waren und die an einer berufsbedingten Asbestkrankheit leiden, haben Anspruch auf deren Versicherungsleistungen.

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