Maggi und Mary
28.10.17
Mary, zu Hause in ihrer Küche. Vor ihr ein Kästchen, das ihr ihre Schwester Maggi zu Weihnachten geschenkt hat. Es enthält ein Kartenspiel, das sie gerne zusammen spielten. Bis zum Schluss (Bild: sa).
Mary nahm ihre Schwester bei sich zu Hause auf und pflegte sie in deren letzten drei Lebensmonaten. Und sie war bei ihr, als diese mit Hilfe von Exit aus dem Leben schied.
Mary ist lebensfroh, optimistisch, steht mit beiden Beinen auf dem Boden. «Ich bin ziemlich stark», sagt sie. «Zudem bin ich nicht theatralisch veranlagt, sondern pragmatisch. Ich hänge nicht gerne in der Luft, sondern bin davon überzeugt, dass man fast jedes Problem lösen kann.» Als ihre Schwester sie damals anrief und ihr mitteilte, dass dieses Mal der Krebs nicht mehr heilbar sei und sie sterben werde, fragte sie: «Wettsch heicho?»
Ihre Schwester lebte seit 1999 in Houston, Texas. Sie hatte dort eine Kosmetikerinnenschule aufgebaut, die einen ausgezeichneten Ruf genoss, und wurde von Studentinnen und Kolleginnen überaus geschätzt. Sie war jedoch immer noch in der Schweiz krankenversichert. Als sie vor drei Jahren zum ersten Mal ihren Gebärmutterhalskrebs bestrahlen musste, wohnte sie bereits ein paar Monate bei der älteren Schwester in Buchs ZH. «Das war eigentlich eine schöne Zeit. Wir hatten gute Gespräche, holten viel auf. Tagsüber ging sie zu ihren Bestrahlungen. Abends sassen wir auf dem Gartensitzplatz, spielten Karten und tranken ein Glas Wein.»
Aber jetzt war alles anders. Maggi, wie Mary ihre Schwester Margrit nennt, kam zum Sterben nach Hause. Der pflegenden Angehörigen war bewusst, dass es anders werden würde als beim ersten Mal. Sie war wie ihre Schwester auch Schulleiterin gewesen: Als ehemalige Laborantin und Berufsschullehrerin leitete sie eine Schule für medizinische Praxisassistentinnen. Vor Kurzem war sie pensioniert worden. Sie hatte Zeit.
Sie habe sich nicht vorgenommen, ihre Schwester bis zum Tod zu pflegen, sondern habe am Telefon diesen Vorschlag spontan gemacht, sagt Mary.
«Die Pflegefachfrauen der Spitex gehörten schliesslich fast zur Familie.»
Ihr Bürozimmer wurde kurzerhand zum praktischen, hell und freundlich gestalteten Krankenzimmer umfunktioniert. Maggi war völlig dehydriert aus den USA gekommen und musste deshalb zuerst ins Spital. Die Palliative-Care-Verantwortliche der Klinik organisierte die Betreuung zu Hause: Am Tag, an dem die Patientin zu ihrer Schwester nach Hause kam, sassen die Schwestern zusammen mit je einer Mitarbeiterin der Spitex Buchs-Dällikon und von Onko Plus am Tisch und besprachen das weitere Vorgehen. Die Spitex kam täglich vorbei, sogar am Sterbetag, «die Pflegefachfrauen gehörten schliesslich fast zur Familie», sagt Mary und lobt deren Einsatz. Auch über den Einbezug von Onko Plus, die einmal pro Woche vorbeischauten, war sie froh, vor allem dass eine Palliativpflegefachperson 24 Stunden erreichbar war. Typischerweise sei es zum Beispiel Freitagabend um 22 Uhr gewesen, als Maggi schlimme, stechende Wundschmerzen bekommen habe.
Die 64-Jährige war Tag und Nacht für ihre zwei Jahre jüngere Schwester da. Sie verabreichte ihr jeweils um 23.30 Uhr zum letzten Mal Morphium und stand in der Nacht auf, wenn diese sie rief. Vor allem gegen Ende ihres Lebens wollte Maggi Mary immer in ihrer Nähe haben. Sie sei in dieser Zeit praktisch nicht mehr aus dem Haus gegangen, habe selbst weder ferngesehen noch Musik gehört und kaum mehr gegessen, weil der Kranken die Düfte aus der Küche widerstrebten. Fast verschämt wärmte sie sich manchmal etwas in der Mikrowelle. Sie habe sich selber enorm zurückgenommen. «Das hat mir nichts ausgemacht. Mir war es wichtig, für sie da zu sein. Aber es war auch anstrengend.»
«Sie war lange nicht bereit, sich auf das Sterben einzulassen.»
Mary blickt «mit schönen Gefühlen und mit viel Liebe» auf diese letzten intensiven drei Monate zurück. Dennoch litt die Beziehung der Schwestern auch. Maggi hatte offenbar ein schlechtes Gewissen, wenn sie ihre Schwester in der Nacht, wegen Schmerzen oder weil sie nicht schlafen konnte, aufweckte. Mary versicherte ihr aber, dass ihr das Aufstehen nichts ausmache. Dass es wie bei den eigenen Kindern sei: Im Moment sei man nicht erfreut, aber es sei selbstverständlich.
Ihre Schwester sei lange nicht bereit gewesen, sich auf das Sterben einzulassen, und habe so viel Normalität wie möglich aufrechterhalten wollen. Sie habe bis ganz zum Schluss Karten spielen wollen, auch wenn es nur noch schleppend ging und sie dabei stark ermüdete. «Sie hatte wohl die Hoffnung, dass wir es noch einmal so lustig haben werden wie vor drei Jahren.»
Ihre Schwester benutzte bis zuletzt den Nachttopf für die Toilette und trug keine Windeln, sagt Mary. «Sie wollte bis zuletzt selber entscheiden und nicht total abhängig werden.» Deshalb habe sie auch den Weg des assistierten Freitods gewählt. Aus organisatorischen Gründen fiel ihr Todestag auf den Tag nach Marys Geburtstag. Zuerst hatte diese Mühe damit. Aber irgendwann war es ihr nicht mehr wichtig.
«Die Herren von Exit versicherten mehrfach, sie könne es sich noch anders überlegen.»
Die Herren von Exit kamen zu zweit: ein Sterbehelfer und ein Anästhesie-Spezialist, weil Maggi wegen ihres durch den Krebs verschlossenen Magenausgangs das Natrium-Pentobarbital (NaP) nicht trinken konnte, sondern es ihr intravenös verabreicht werden musste. Sie testeten den Ablauf zuerst mit Kochsalzlösung, zeigten der Patientin, dass sie entweder am Rädchen drehen oder ein Hähnchen kippen musste. Und sie versicherten ihr mehrfach, sie könne es sich immer noch anders überlegen, wenn sie wolle. Sie müsse nicht jetzt sterben.
«Natürlich war es ein sehr emotionaler Moment. Ihre beiden Kinder waren da. Wir verabschiedeten uns von ihr. Ich sagte ihr, dass ich sie sehr mutig finde. Der Spezialist füllte das NaP in die Infusion, sagte, Maggi könne jetzt drehen. Sie liess keine Zeit verstreichen und drehte sogleich den Hahn um. Ich beginne jetzt, sagte sie und war weg.»
Danach folgten die Abklärungen der Polizei und des Amtsarztes, worauf die Sterbehilfeorganisation die Angehörigen bereits vorbereitet hatte. Weil es sich nicht um einen natürlichen Todesfall handelte, mussten die Behörden sicher sein, dass alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Nach 90 Minuten waren Exit und Behörden wieder weg. Mary und ihre Nichte kleideten die Tote ein, während sie mit ihr sprachen. Bald darauf holte der Bestatter ihren Leichnam ab.
«Ich hatte ihr versprechen müssen, dass ich eine Gesprächstherapie mache.»
Danach weinte Mary zwei Tage lang. Wenn sie auf dem Sofa sass, war es ihr, als rufe ihre Schwester nach ihr. Erst am dritten Tag, als sie einmal draussen war, merkte sie, dass ihr leichter zu Mute wurde und sie dachte: «Jetzt ist sie weg.» Ins viel besagte Loch fiel sie nicht. Sie hatte sich vorsorglich für eine Gesprächstherapie bei einer Psychologin angemeldet. Das hatte sie Maggi versprechen müssen.
Sie hatte gemeint: «Wenn alles vorbei ist, bin ich wieder die Alte.» Aber alles sei noch schwer gewesen und sie immer noch müde. Die Erschöpfung fiel erst allmählich von ihr ab. Sie brauche auch jetzt, fünf Monate nach Maggis Tod, noch immer viel Zeit für sich.
Dass ihre Schwester mit Exit ging, verurteilt sie nicht. Es sei deren Weg gewesen. Diese habe zuvor noch viel in Ordnung bringen können. Für sich habe sie mehr Erleichterung erwartet, habe gedacht, man könne sich besser verabschieden, besser abschliessen, wenn man den Termin kenne. «Ich mache mir dennoch manchmal Vorwürfe: Ich hätte in diesen drei Monaten mehr mit ihr sprechen, sie mehr in den Arm nehmen und ihr häufiger sagen sollen, wie gern ich sie habe.»