«Manche Patienten rufen nach ihrer Mama»

22.04.18

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Margarete Reisinger betreut zusammen mit der Ehefrau einen sterbenden Mann (Bild: Sabine Rock).

Margarete Reisinger, Mitarbeiterin von Onko Plus, hat sich für ihre Masterarbeit mit dem sogenannten Sterbebettphänomen auseinandergesetzt. Immer wieder berichten Menschen in Todesnähe, dass ihnen verstorbene Verwandte begegnen oder sie sich auf eine Reise begeben müssen. Obwohl viele Palliativ-Fachpersonen solche Erfahrungen machen, sprechen sie meist nicht darüber. Reisinger möchte das ändern.

Was sind Sterbebettphänomene?

Margarete Reisinger: Darunter versteht man Wahrnehmungen von sterbenden Menschen. Sehr häufig erscheinen ihnen bereits verstorbene Angehörige, schöne Orte, seltener Lichtgestalten oder Heilige. Häufig sagen sie, sie würden sich auf eine Reise machen. Die Visionen können sehr unterschiedlich sein. Der Zeitpunkt, wann das Sterbebettphänomen auftritt, variiert ebenfalls stark: Meistens tritt es 24 Stunden vor dem Sterben auf, ich habe es aber oft auch schon früher erlebt. Manchmal eine Woche bis zu einem Monat vorher. Mich dünkt es, zuweilen tritt das Phänomen früh auf, wenn es noch etwas zu erledigen gibt oder als eine Art Vorbereitung auf das Sterben. Aber das ist meine eigene Interpretation.

Der Mann schien drei unsichtbaren Gestalten die Hand zu schütteln. Vor jeder verneigte er sich ein bisschen. Er sah sehr ehrfürchtig aus.

Ist Ihnen das Phänomen schon mehrmals begegnet?

Als ich stationär gearbeitet habe, begleiteten wir Menschen sehr intensiv beim Sterben, zusammen mit ihren Angehörigen. Da erlebte ich es öfters mit und wurde so auch auf das Thema aufmerksam. Manche Patienten rufen nach ihrer Mama. Oder der Herr, dem ich aus dem Bett aufhelfen musste: Er schien drei unsichtbaren Gestalten die Hand zu schütteln. Vor jeder verneigte er sich ein bisschen. Er sah sehr ehrfürchtig aus. Nachher ging er einen Schritt zurück und legte sich wieder ins Bett. Häufig erzählten auch Angehörige von einem Erlebnis. Zum Beispiel sagte ein Sohn, dem Vater sei im Sterbebett sein erster Sohn erschienen, der bereits als kleines Kind verstorben war. Der Bruder hatte ihn gar nie kennengelernt, war aufgeregt und fragte sich, was er davon halten solle.

Wie kann man das Sterbebettphänomen von der terminalen Unruhe, einer Form des Delirs, unterscheiden? Dieses Symptom tritt ebenfalls häufig kurz vor dem Tod auf.

Es liegt nahe, beim Sterbebettphänomen ans Delir zu denken. Beides sind Phänomene mit Wahrnehmungen und Halluzinationen, die für Aussenstehende nicht fassbar sind. Der Unterschied ist aber sicherlich, dass die Wahrnehmungen, die zum Delir gehören, häufig abstrus sind. Ein Delir geht immer mit Unruhe, Angst und Unbehagen einher. Es zeigen sich andere Bilder. Ein Delir macht medizinische Behandlung unbedingt notwendig. Beim Sterbebettphänomen erscheinen der sterbenden Person tatsächlich oft Angehörige, die bereits verstorben sind. Diese Wahrnehmungen ergeben zudem einen Sinn und lösen meist neben dem Erstaunen, Freude und angenehme Gefühle aus. Jedoch auch nicht immer, zum Beispiel bei unerledigten Angelegenheiten und Zerwürfnissen.

Für diejenigen, die das Phänomen wahrnehmen, ist es die Realität. Und wir Pflegenden sollten diese auch als solche akzeptieren, egal ob wir sie nachvollziehen können.

Sie sprechen in Ihrem Text auch davon, die beschriebenen Erscheinungen würden als «hyperreal» erlebt.

Ja, einer der befragten Experten meinte: Für diejenigen, die das Phänomen wahrnehmen, ist es die Realität. Und wir Pflegenden sollten diese auch als solche akzeptieren, egal ob wir sie nachvollziehen können. Hyperreal heisst auch, es sind sehr intensive Wahrnehmungen. Man kann auch von Träumen sprechen. C. G. Jung hat bereits beschrieben, wie grosse Veränderungen im Leben sich in intensiveren Träumen ankündigen. Das Sterbebettphänomen geht in diese Richtung. Im Englischen werden die Phänomene auch «End of Life Dreams and Visions» genannt.

Welche Wirkung hat das Sterbebettphänomen auf Patientinnen und Patienten?

Meist ist es ein Ereignis, das freudig und manchmal auch als verstörend erlebt wird. Das geht den Angehörigen ähnlich. Wie beim Sohn, von dem ich erzählt habe, der wegen des «Erscheinens» seines verstorbenen Bruders sehr aufgeregt war. Ich konnte ihn beruhigen, indem ich sagte, dass wir das öfters feststellen. Patientinnen und Patienten haben manchmal auch das Gefühl, sie werden erwartet. Das lässt dann Raum für viel Interpretation: Gibt es ein Leben nach dem Tod? Sind die Verstorbenen um uns?

Wirkt diese Erfahrung auf die Sterbenden auch beruhigend?

Ja, schon. Meistens überbringen die Angehörigen eine ermutigende Botschaft oder eine Mitteilung; im Sinne einer Begleitung und einem Erwartetwerden, sie teilen ihnen mit«Du bist nicht allein».

Reagieren Patientinnen und Patienten auch mit Angst?

Ja. Ich erinnere mich an eine junge Mutter mit Mitte zwanzig, die mehrmals im Krankheitsverlauf ihre Grossmutter sah. Sie hatte das Gefühl, diese warte auf sie und wolle sie mitnehmen. Sie selbst war aber noch nicht bereit. Bei den ersten Begegnungen schloss man auf Verwirrung durch Morphin, was möglich war. Denn das eine schliesst das andere nicht aus. Bei der dritten Begegnung war sie aber ganz ruhig und friedlich. Ich dachte, sie schlafe noch, sie sprach vor sich hin. Plötzlich schlug sie die Augen auf. Als ich nachfragte, sagte sie, sie habe erneut ihre Grossmutter gesehen und es sei jetzt gut. Sie habe keine Angst mehr.

Scheut man sich als Pflegende, solche Phänomene ernst zu nehmen?

Ja, man scheut sich sicherlich. Nur schon bis ich mich traute, dieses Thema für meine Masterarbeit zu formulieren, hat es einige Zeit gedauert.

Können Sie beschreiben, weshalb man lieber einen Bogen um das Thema macht?

In Kollegenkreisen fällt schnell einmal das Wort «esoterisch». Zudem ist es in der Fachliteratur nicht gross beschrieben. Auch die Literatur, die ich bearbeitet habe, ist relativ eng umrissen. Es gibt viel Literatur über Nahtoderfahrungen, die dem Sterbebettphänomen ähnlich sind. Im Rahmen unserer Ausbildung zur Pflegefachperson wird das Phänomen nicht besprochen. Ich denke, in anderen medizinischen Berufen auch nicht.

Weil es kein physisches Phänomen ist?

Das sowieso. Alles, was nicht physisch ist, ist schwierig zu erfassen und dementsprechend ernst zu nehmen. Ich hatte sogar Kollegen auf der Palliativstation, die sagten, sie hätten noch nie so etwas erlebt. Das kann ich allerdings – ehrlich gesagt – fast nicht nachvollziehen, vor allem wenn man schon viele Menschen beim Sterben begleitet hat. Vielleicht fehlt ihnen die Sensibilität, oder sie kennen es wirklich einfach nicht.

Vielleicht nehmen medizinische Fachleute solche übersinnlichen Erfahrungen nicht ernst.

Oder was man nicht kennt, landet sofort in der Delir-Schublade. Das Delir kennt man, das ist beschrieben. Zu seiner Behandlung gibt es ein Medikamentenschema.

Sie sollten wissen, dass es so was gibt, dass das dazugehört und sein darf.

Haben Sie einen Handlungsbedarf festgestellt? Soll man mehr über das Sterbebettphänomen reden oder forschen?

Ja, Ärztinnen, Pflegende und andere medizinische Berufe, die Menschen in der letzten Lebensphase betreuen, sollten es kennen. Sie sollten wissen, dass es so was gibt, dass das dazugehört und sein darf. Ich möchte aber hervorheben: Das Sterbebettphänomen ist keine Pflegediagnose. Man muss auch das Delir erkennen, denn das muss behandelt werden. Wenn das Sterbebettphänomen zudem Angst macht, sollte man darüber sprechen. Und es ist wichtig, es differenziert anzusehen.

Was tun Pflegende am besten?

Wenn man selbst nicht damit umgehen kann, könnte man erfahrene Kolleginnen und Kollegen, Seelsorgerinnen oder Psychologen beiziehen. Und sonst den Patientinnen und Patienten einfach ein Gesprächsangebot machen, offen sein und nachfragen, was ihnen Angst macht und was sie brauchen. Als Pflegende bin ich jedoch häufig direkt damit konfrontiert. Darum erscheint es mir so wichtig, darüber Bescheid zu wissen.

Welche Bedeutung hat das Sterbebettphänomen für Sie persönlich?

Für mich als Pflegende ist das Begleiten von sterbenden Menschen überhaupt eine emotionale Situation. An solchen Phänomenen teilzuhaben, ist etwas Besonderes und Intimes, das einem in Erinnerung bleibt. Wir erleben Menschen in einer Grenzsituation, und jede Grenzsituation zeigt das Wahre im Menschen. Da ist kein Platz mehr für irgendwelche Masken. Genau so sensibel und einfühlsam muss man damit umgehen. Für einen selber ist das sehr lehrreich. Solche Situationen haben mich animiert, mich vertieft mit dem Sterben auseinanderzusetzen, mich zu fragen was und ob überhaupt etwas danach kommt.

Und was kommt nach dem Tod, denken Sie?

Ich habe das Gefühl, dass es nach dem Sterben weitergeht. Gerade die Bilder des Abholens oder der Reise lassen mich hoffen, dass ich Freunde und Verwandte wieder antreffe. Nein, ehrlich gesagt habe ich die Gewissheit, dass es nachTod ein Leben gibt. Vielleicht habe ich deshalb das Thema gewählt.

Obwohl die Pflegefachfrau selbst nicht daran glaubt, konnte sie die Frau ernst nehmen und begleiten. Das spricht für ihre grosse Einfühlsamkeit.

Geht das auch den Experten so, die sie interviewt haben?

Nein, eine Expertin bezeichnete sich selbst als Agnostikerin. Sie bestreitet also die Existenz eines Gottes oder des Lebens nach dem Tod nicht, erkennt aber auch an, dass wir als Menschen sie nicht beweisen können. Sie hat vom Sterbebettphänomen der Reise erzählt: Ihre Patientin wollte die Koffer packen «für die bevorstehende Reise». Und obwohl die Pflegefachfrau selbst nicht daran glaubt, konnte sie die Frau ernst nehmen und begleiten. Das spricht für ihre grosse Einfühlsamkeit. 

 

Margarete Reisinger hat für ihre Masterarbeit in Palliative Care über das Sterbebettphänomen geforscht. Als Methoden dienten ihr die Literaturrecherche und Interviews mit Expertinnen und Experten. Ein Auszug ist in der aktuellen Ausgabe von «Spiritual Care, der Zeitschrift für Spiritualität in den Gesundheitsberufen» erschienen.

Reisinger, Margarete und Schärli-Purtschert, Marianne: Sterbebettphänomen. Zur ganzheitlichen Begleitung von Menschen am Lebensende. In: Spiritual Care, Zeitschrift für Spiritualität in den Gesundheitsberufen. April 2018, Band 7, Heft 2.

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