Brauchen Menschen mit Demenz Palliative Care?
16.01.20
Die mobilen Palliative-Care-Teams im Kanton Zürich machten sich fit fürs Thema Demenz. Die Erkenntnis nach dem Morgen mit Geriater und Palliativmediziner Roland Kunz war: Demenz ist eine fortschreitende, unheilbare Krankheit, an der man stirbt. Deshalb muss bei einer Demenz- wie bei einer Krebs-Diagnose auch die Frage nach dem Ende gestellt werden.
Demenz als Todesursache ist zwischen 2000 und 2014 um 89 Prozent gestiegen, wie eine Studie aus den USA zeigt. Das hat nicht mit mehr Erkrankten, sondern mit einem gesteigerten Bewusstsein zu tun, dass demenzielle Erkrankungen wie zum Beispiel Alzheimer zum Tod führen. Viele Akteurinnen und Akteure aus dem Demenzbereich hätten diese Tatsache bisher vernachlässigt und Demenz nur als chronische Krankheit behandelt, sagte Roland Kunz am Montagmorgen im Waidspital. Aber auch die Palliative Care hatte einen blinden Fleck: Sie wurde mit dem Fokus auf Krebserkrankungen entwickelt und wird bei anderen chronisch fortschreitenden Krankheiten zum Teil erst zögerlich angewendet.
Rund zwanzig Palliativpflegende und eine Ärztin waren an die halbtägige Weiterbildungsveranstaltung gekommen, die Roland Kunz, Chefarzt der universitären Klinik für Akutgeriatrie und dem Zentrum für Palliative Care am Stadtzürcher Waidspital anbot. «Stirbt man mit einer oder an einer Demenz», fragte der Arzt rhetorisch, um gleich selbst vorwegzunehmen: «Menschen mit einer leichten, milden oder mittelschweren Demenz sterben mit einer Demenz. Solche, die an einer schweren Demenz leiden, sterben an dieser Krankheit.»
Jeden Tag «Gschwellti»
Anders als zum Beispiel bei einer Krebsdiagnose denken die Betroffenen und ihre Angehörigen bei der Diagnose Demenz nicht zuerst ans eigene Ende, sondern vielmehr stehen der Verlust von Selbstständigkeit und die zunehmende Abhängigkeit im Vordergrund. Viele Betroffene würden erste kognitive Symptome wie Vergesslichkeit oder schwindende Konzentrationsfähigkeit kaschieren und verdrängen und somit die Diagnose vor sich herschieben. Männliche Angehörige seien sogar besser darin, ihre Augen vor einem Defizit zu verschliessen als weibliche. So habe ihm der Ehemann einer Patientin, bei der er eine bereits fortgeschrittene Demenz festgestellt hatte, versichert, seine Frau könne noch immer kochen. Als Kunz gezielt und mehrmals nachfragte, fand er heraus, dass das Paar täglich «Gschwellti» isst.
Brauchen Demenzpatientinnen und -patienten spezialisierte Palliative Care? Ja, befanden die Anwesenden. Vor allem zu Beginn, kurz nach der Diagnose, und dann womöglich gegen Schluss wieder, bei der End-Of-Life-Care, der Palliative Care im engeren Sinne. Das Fenster der Urteilsfähigkeit schliesst sich rasch – «eine der wenigen sicheren Prognosen bei einer Demenz», so Kunz – und es ist wichtig, in noch guter geistiger Verfassung für die Behandlung und das eigene Ende vorauszuplanen. Ausserdem muss auch bei Menschen, die an einer Demenz erkrankt sind, der Fokus auf die Lebensqualität gelegt werden.
Schläge, Freiheitsberaubung und Schuldgefühle
Die Lebensqualität sei bei den Betroffenen kurz nach der Diagnose häufig tief, weil sie immer noch viel von sich selbst verlangten, diese Erwartungen und die Realität jedoch auseinanderklafften, erklärte Kunz. Viele entwickelten deswegen eine Depression. Auch die pflegenden Angehörigen litten unter hohen Erwartungen an den Patienten, die immer weniger erfüllt werden, und dem fehlenden Verständnis für die Symptome. Solche Situationen drohen zu eskalieren, indem zum Beispiel die betreuenden Angehörigen mit Gewalt oder Einschliessen reagieren, die Patientin in die Psychiatrie oder Langzeitpflege einweisen und selbst unter Schuldgefühlen leiden. Das soziale Umfeld, Nachbarn oder aussenstehende Verwandte, realisieren häufig nicht, wie belastend die Betreuung eines Menschen mit Demenz sein kann. «Deshalb ist eine neuropsychologische Abklärung enorm wichtig. Wir müssen herausfinden, welche Ressourcen jemand mitbringt und wie viel Entlastung nötig ist», sagte Roland Kunz. Die Behandlungsteams stünden in der Pflicht, die Angehörigen regelmässig über die aktuelle Krankheitssituation zu informieren und das Fortschreiten bewusst zu machen.
Für die betroffenen Patientinnen und Patienten beinhaltet Lebensqualität u. a. folgende Aspekte:
- Selbstwertgefühl: Auch Menschen mit Demenz möchten sich noch nützlich fühlen und z. B. beim Zubereiten des Mittagessens helfen.
- Autonomie: Im Rahmen des Möglichen sollen sie in ihrem Leben mitbestimmen können.
- Sicherheit: Rituale schaffen Sicherheit, so kann zum Beispiel das Sprechen eines Abendgebets oder eines Schlaflieds beruhigend wirken.
- Positive Emotionen: Humor, Freude und Lachen sind auch für Menschen mit Demenz enorm wichtig. Anstatt ein Missgeschick peinlich getroffen zu übersehen, dürfe auch einmal darüber gelacht werden, sagte Kunz.
- Zugehörigkeit: Es tut Menschen mit Demenz gut, weiterhin am Familienleben, am Austausch mit Freunden teilzuhaben.
- Lieben und geliebt werden: Unter diesem Punkt erzählte Kunz die Geschichte einer Frau, die ihren dementen Gatten schweren Herzens in einem Pflegeheim abgab. Der Patient sass zwei Stunden später glückselig mit einer anderen Patientin im Arm auf dem Sofa. Das Behandlungsteam wollte die Ehefrau vor ihrem nächsten Besuch vorsichtig über die neue Situation informieren und war erstaunt über deren positive Reaktion: Die Ehefrau war völlig erleichtert, dass sich ihr Mann wohl fühlte in der Pflegeeinrichtung und nicht traurig war.
- Lust, Genuss, Sinnlichkeit: Gutes Essen, eine Umarmung, Musik kann Lebensqualität bedeuten.
- Vermeidung von negativen Emotionen und Zwängen: Niemand will zu einer Handlung gezwungen werden, auch Menschen mit Demenz nicht. Zum Beispiel wenn es ums Duschen geht: Vielleicht haben sie früher immer abends geduscht, weshalb sollen sie das jetzt am Morgen tun?
«Bei Menschen mit Demenz ist die Symptomerfassung schwierig, weil Schmerzen, Atemnot, Übelkeit oder Angst auf einer subjektiven Wahrnehmung beruhen. Wir erfahren davon nur, wenn wir mit den Menschen reden können.»
Roland Kunz, Geriater und Palliativmediziner
- Körperliches Wohlbefinden: Diesen Punkt nannte Roland Kunz extra zuletzt. Das Symptommanagement ist zwar in der Palliative Care eines von vier Kernelementen (neben Entscheidungsfindung, Netzwerk und Support). Bei Menschen mit Demenz ist die Symptomerfassung aber schwierig, weil Schmerzen, Atemnot, Übelkeit oder Angst auf einer subjektiven Wahrnehmung beruhen. «Wir erfahren davon nur, wenn wir mit den Menschen reden können.»
Nichtsdestotrotz ist davon auszugehen, dass Menschen mit einer Demenz in ihrem letzten Lebensjahr eine ebenso grosse Symptomlast tragen wie andere kranke Menschen, die bald sterben. Schwierig ist die Erfassung von Schmerzen bei Dementen nicht nur wegen ihrer kommunikativen Einschränkungen, sondern auch wegen ihres gestörten Körpergefühls (wo tut‘s weh?), Gedächtnisstörungen (sie vergessen zum Beispiel einen Sturz gleich wieder) oder dem eingeschränkten abstrakten Denken; ihren Schmerz auf einer Skala anzugeben etwa ist für sie schwierig. Eine Studie aus Norwegen zeigt aber, dass bei Menschen mit Demenz, bei denen ein systematischer Schmerzmittel-Aufbau ausprobiert wird, auch Agitiertheit und Aggression signifikant gesenkt werden können.
Um herauszufinden, ob eine Patientin mit Demenz Schmerzen habe, seien eine systematische Beobachtung – hier riet Kunz eher zu einer Dauer von 48 Stunden als zu zwei Minuten –, und auch die Fremd-Anamnese nötig, also das Gespräch mit den Angehörigen. Litt die Patientin je unter Schmerz-Problemen? Im Zweifelsfall würden geeignete Medikamente in geringer Dosis ausprobiert, sagte Roland Kunz. Das Therapiekonzept müsse simpel sein und die Verabreichungsform stimmen, Tropfen sind geeigneter als Tabletten und retardierte Formen als schnell wirksame. Zudem behandle er jeweils gleich die Nebenwirkungen wie Übelkeiten oder Verstopfung gleich mit, so Kunz. «So angewendet sind Opiate zum Beispiel auch bei Menschen mit Demenz geeignet.»
Eine Demenz beeinträchtigt neben der Kognition und der Motivation vor allem auch das Verhalten. Verhaltensstörungen können zu unverstandenen Grenzsetzungen führen, Angehörige belasten und bei ihnen Gegenaggressionen auslösen, das Leiden erhöhen, den Schlaf-Wach-Rhythmus stören und die Lebensqualität bei allen Betroffenen reduzieren. Die palliative Behandlung mit Psychopharmaka findet Roland Kunz erst nach dem Ausschluss von somatischen Schmerzen gerechtfertigt und wenn das Ziel der Behandlung klar definiert ist. «Wichtig ist, dass es dabei immer um die Symptomlinderung für den Patienten geht und nicht um das „Pflegeleicht-Machen“», schreibt Roland Kunz auch in einem Artikel mit dem Titel «Palliative Care für Menschen mit Demenz». Zudem gelte immer der Grundsatz: «So wenig Medikamente wie möglich, so viel wie nötig.»
Entfalten die erprobten Medikamente nicht die gewünschte Wirkung, müssten sie dringend wieder abgesetzt werden, nicht dass die Medikamentenlisten immer länger werden.
Knick, drei Monate vor dem Tod
«Es ist sehr schwierig bei einer fortgeschrittenen Demenz einzuschätzen, wie nahe am Lebensende man steht», schloss Kunz seinen spannenden Vortrag. Auch Fachpersonen tun sich schwer damit. So rechnete das Pflegepersonal nur bei einem Prozent der Eintretenden in ein Pflegeheim mit dem Tod in den nächsten sechs Monaten. Tatsächlich verstarben aber 71 Prozent der Gruppe in diesem Zeitraum, wie eine palliativmedizinische Untersuchung zeigte. Viele Demenzbetroffene erführen zirka drei Monate vor ihrem Tod einen Knick in Allgemeinzustands-Kurve, also eine deutliche Verschlechterung, sagte Kunz. Aber das sei nur retrospektiv feststellbar. «Das Einzige was uns bleibt, ist das Thematisieren der Endlichkeit, immer und immer wieder.»