Das konsequente Ende einer starken Frau

25.05.22

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Heidi Heller

Heidi Heller (1926-2020) zwischen zwei Besuchen am Ausruhen. Kurz vor ihrem Tod empfing sie in der Wohnung ihrer Tochter Freundinnen, um sich von ihnen zu verabschieden (Bild: zVg).

Barbara Heller Weber nahm ihre Mutter (94) mitten in der Pandemie zu sich nach Hause, damit diese in Ruhe sterben konnte. Dort gelang der ehemaligen Lehrerin mit Sterbefasten ein überaus selbstbestimmtes Ende, mit dem sie schliesslich alle verblüffte.

Einmal pro Tag bewegte sich Heidi Heller mit ihrer Gehhilfe von ihrem Pflegebett aus Richtung Wohnzimmer. Dort sass sie behaglich auf der Ofenbank, sprach mit ihrer Tochter, ihrem Schwiegersohn, ihrer Enkelin. In der Wohnung ihrer Tochter empfing sie aber vor allem Besuch: Freundinnen, Bekannte, den Pfarrer. Alles Abschiedsbesuche. Die 94-Jährige ass schon seit Tagen nichts mehr. Seit sie sich mit dem Corona-Virus angesteckt hatte, war ihr der Appetit vergangen. Sie habe ein langes und erfülltes Leben gehabt, sagte sie. Jetzt sei es Zeit für sie, den Sterbeprozess bewusst zu durchleben. Sie habe keine Angst vor dem Sterben.

«Meine Mutter hat sich beim Sterben so konsequent verhalten wie in ihrem ganzen Leben», sagt ihre Tochter Barbara Heller Weber eineinhalb Jahre nach deren Tod. Die Psychotherapeutin und Musiktherapeutin, die bis vor kurzem in einer psychiatrischen Klinik arbeitete, erinnert sich und erzählt sichtlich gern von der bemerkenswerten Frau, die ihre Mutter gewesen war. Sie unterstreicht ihre Erzählungen mit Fotos, die sie in selbst gestalteten Fotobüchern gesammelt oder auf ihrem Laptop gespeichert hat.

Früher Rollentausch

Heidi Korrodi kam im Jahr 1926 zur Welt. Obwohl sie bereits als Siebenjährige ihre Mutter verlor, verfügte sie über ein starkes Urvertrauen. Sie wurde Primarlehrerin und arbeitete drei Jahre lang in einer Schweizer Schule in Barcelona. Ihren künftigen Ehemann, Bruno Heller, hatte sie im Lehrerseminar kennengelernt. Da er Künstler war, akzeptieren ihre Eltern die Ehe ihrer Tochter zuerst nicht. «Meine Mutter heiratete meinen Vater gegen den Willen ihrer Eltern. Ihr Vater war die ersten sieben Jahre mit seinem Schwiegersohn per Sie.»

Die Hellers waren eine aussergewöhnliche Familie, weil die Ehepartner bereits in den 50er-Jahren einen Rollentausch vollzogen: Heidi Heller brachte als Primarlehrerin das Geld nach Hause, er sorgte für die Kinder und arbeitete nebenbei an seiner Kunst, die in Malerei, Druck und schon früh in Fotocopy-Collagen bestand. «Er war lange suchend und hatte seinen Durchbruch erst, als er über 50 Jahre alt war», erzählt Barbara Heller Weber. Als sie zweijährig und ihr Bruder sieben Jahre alt war, zog die Familie Heller in die Langrüti auf dem Wädenswiler Berg. Die Mutter übernahm dort die Mehrklassenschule in einem kleinen Landschulhaus, der Vater sorgte für die Kinder, den Haushalt und unterstütze seine Frau, etwa in originellen Projekten. Einmal bauten sie zusammen mit der Klasse auf dem Pausenplatz eine Hütte, in der die Kinder sogar übernachten durften.

Wir sprachen bereits vor 25 Jahren übers Sterben. Bei uns gab es keine Tabus.» Barbara Heller Weber, Tochter

Familie Heller pflegte einen offenen Gesprächsstil. Es gab keine Tabuthemen. Dass der Vater wiederholt an Depressionen litt, wussten die Kinder. Auch Sterben und Tod waren später kein Tabu. «Wir sprachen bereits vor 25 Jahren übers Sterben», sagt die Tochter. «Später einmal bat ich meine Mutter, ein paar Episoden aus ihrem Leben aufzuschreiben.» Barbara Heller Weber zeigt die mit akkurater Schnüerlischrift verfassten Anekdoten.

Die energiegeladene Heidi Heller übernahm das Zepter, als es um die Aufbereitung des künstlerischen Nachlasses ihres Mannes ging. Als er noch lebte, erschien ein erstes Buch mit seinen Arbeiten. Nach seinem Tod 2014 arbeiteten Ehefrau und Tochter, unterstützt von einer Kunsthistorikerin und einem Fotografen an einer zweiten Publikation. Diese Arbeit schweisste die beiden zusammen. «Mutter erzählte mir viel aus ihrem Leben. Das fand ich total interessant. Als die Arbeit fertig war, trafen wir uns trotzdem regelmässig weiter, um diese Erzählungen fortzusetzen.»

Dann kam die Pandemie. Heidi Heller, nun 94-jährig, lebte seit einem Jahr in einem Alters- und Pflegezentrum ennet dem See. Als sich das Virus dort ausbreitete, wurden die Bewohnerinnen und Bewohner isoliert. Heidi Heller konnte drei Wochen nicht duschen, weil sich das Bad ausserhalb ihres Zimmers befand. Ihre Tochter telefonierte täglich mit ihr, es galt striktes Besuchsverbot. «Meine Mutter war zu diesem Zeitpunkt noch guten Mutes. Sie machte in ihrem Zimmer täglich tausend Schritte und ihre Gymnastikübungen.» Die Tochter aber war sehr besorgt. Sie und ihr Mann – er ist Physiotherapeut in der Langzeitpflege –, fassten den Plan, die Mutter zu sich nach Hause zu holen, sollte sie in die Sterbephase kommen.

Zum Sterbefasten nach Hause

Zu Beginn war die selbstbewusste Seniorin dagegen. Dann wurde sie positiv auf Corona getestet, hatte ausser Schüttelfrost aber kaum Symptome. Ihre Tochter und der Schwiegersohn fragten bei der Spitex Zürichsee und Palliaviva nach, ob die Betreuung einer corona-positiven Patientin zu Hause möglich sei. Heidi Heller sagte noch immer, ein Austritt aus dem Alterszentrum sei nicht nötig. Irgendwann kippte bei ihr aber die Stimmung. Das Virus schwächte sie mehr, als erwartet. Sie hatte kaum mehr Lebenslust und Appetit. «Wir hatten schon mehrmals übers Sterbefasten gesprochen. Sie hatte es bei meinem Vater erlebt. Er hörte nach einer Lungenentzündung, im Alter von 89 Jahren, mit dem Essen auf und verstarb relativ rasch und friedlich.»

So fasste Heidi Heller eines Nachts den Entscheid, mittels freiwilligen Verzichts auf Nahrung und Flüssigkeit aus dem Leben zu treten. Sie trat aus dem Pflegeheim aus – inzwischen sogar mit negativem Corona-Test – , um in der Wohnung ihrer Tochter und ihres Schwiegersohns zu sterben. Diese hatten ein Pflegebett bestellt und es ins Erdgeschoss ihrer Maisonette-Wohnung gestellt. Die Tochter – sie hatte extra frei genommen – , Schwiegersohn und Enkelin umsorgten sie liebevoll, begleiteten sie täglich aufs Ofenbänkli. Spitex und Palliaviva unterstützten sie pflegerisch und medizinisch. «Das Wissen, dass wir in Notfällen rund um die Uhr jemanden von Palliaviva anrufen können, gab uns Sicherheit und Ruhe, dass wir es schaffen.»

Heidi Heller schlief also im unteren Stock und läutete mit einem Glöckchen, wenn sie etwas brauchte. Der Schwiegersohn schlief in den letzten Nächten sogar auf einer Matte vor ihrer Türe.

Sie liess das warme Wasser über sich fliessen und strahlte wie ein kleines Kind.» Barbara Heller Weber, Tochter

Im Heim hatte sie noch Zmittag gegessen, danach verzichtete sie ganz auf Nahrung. «Sie hatte auch schlicht keinen Hunger mehr», erinnert sich die Tochter. Dafür trank die Mutter mehrere Gläser Wasser pro Tag. Denn durch das viele Reden während der Abschiedsbesuche trocknete ihr Mund aus. Auf den Hinweis der Tochter, es dauere länger, bis sie sterbe, wenn sie immer noch so viel trinke, reagierte sie ungläubig. Sie werde Monika Jaquenod fragen. Die Palliativmedizinerin und Konsiliarärztin von Palliaviva pflichtete der Tochter aber bei. Sie sagte bei ihrem Besuch Anfang Dezember 2020, wenn sie weiterhin so viel trinke, lebe sie vermutlich noch zwei Wochen. Heidi Heller widersprach. Sie werde höchstens noch vier Tage leben. In den nächsten Tagen erwarte sie den Besuch ihrer besten Freundin. Dann habe sie sich von allen verabschieden können. Sie trank danach kaum mehr etwas und war dankbar, dass ihr die Palliaviva-Pflegenden Medikamente gegen die starken Schmerzen spritzten.

Und tatsächlich, nur zwei Tage nach dieser Aussage starb sie, früh und friedlich an einem Montagmorgen. Tochter und Schwiegersohn waren bei ihr. Es war der elfte Tag ihres Sterbefastens. Nachdem sie am Sonntag noch ihre beste Freundin verabschiedet und eine Dusche genossen hatte. Ihre Tochter erzählt: «Sie sagte an diesem Morgen zur Spitex-Pflegenden, sie hätte eine vermessene Bitte. Sie würde äusserst gerne duschen. Die Pflegefachfrau sagte, das sei gar kein Problem. Wir begleiteten meine Mutter unter die Dusche. Sie liess das warme Wasser über sich fliessen und strahlte wie ein kleines Kind.» Barbara Heller Weber lächelt beim Erzählen ebenfalls. Es sei ihr vorgekommen wie eine Selbstreinigung. Danach konnte ihre Mutter loslassen und sterben, selbstbestimmt und stark wie sie gelebt hatte.

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