«Das Leben ist zwar schön, kann aber auch tough sein»

01.07.21

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Pflegender Angehöriger

Simone Bühler, Ruben Schmids Frau, starb am 13. Juli 2020. So offen er mit dem Thema Tod umgeht, so natürlich bezog er auch seine Söhne in den Abschied mit ein.

Wie geht es Ihnen, zehn Monate nach dem Tod Ihrer Frau?

Eigentlich geht es mir gut. Ich darf leben und bin gesund. Der Stressfaktor ist jedoch hoch, und meine Trauer hat relativ wenig Platz. Ich bin als Geschäftsführer eines weltweit tätigen Abdichtungsunternehmens beruflich sehr eingespannt. Die Pandemiesituation hat sich zum Glück etwas entspannt, und der Betrieb läuft fast wieder normal. Gleichzeitig bin ich jetzt alleinerziehend. Meine Söhne sind sieben und zehn Jahre alt. Seit dem 1. November 2020 unterstützt uns eine Nanny zu Hause, was mich aber nur zum Teil entlastet. Die meisten Entscheidungen muss ich nämlich trotzdem selbst fällen. Vor allem mein älterer Sohn akzeptiert das Wort der Nanny oft nicht und ruft mich mehrmals täglich an. Die Position als Chef gibt mir natürlich Freiheiten, und ich kann mir für die Familie auch tagsüber Zeit nehmen. Abends arbeite ich dafür regelmässig bis Mitternacht. Das hängt an.

Wie geht es Ihren Söhnen?

Der jüngere Sohn weinte lange jeden zweiten Abend. Das hörte auf, als die Nanny kam. Weihnachten ging gut über die Bühne, relativ emotionslos. Der Geburtstag meiner Frau – am 28. Februar wäre sie 50 Jahre alt geworden – war aber ein trauriger Anlass. Ich wollte ihn bewusst feiern, die Kinder durften etwas zum Essen wünschen. Ich versuche, meine Frau in unseren Alltag einzubeziehen, sie für die Jungs präsent zu halten. Nicht dass wir dauernd traurig wären, sondern mehr, indem ich zum Beispiel sage: «Daran hätte Mami auch den Plausch gehabt.»

Machen Sie das intuitiv oder hat Ihnen die Therapeutin, die Sie und Ihre Söhne in der Trauer begleitete, dazu geraten?

Ich habe mit Vielem unbewusst begonnen, was die Trauerbetreuerin im Nachhinein gut fand. Wir haben als Familie den Tod erleben müssen. Er ist nicht per se schlecht, sondern vor allem schwierig, weil er nicht umkehrbar ist. Ein Computerspiel, das man verhaut, kann man von vorne beginnen. Beim Leben ist es leider nicht so. Der Tod hat für mich jedenfalls einen ganz anderen Stellenwert bekommen.

Drei Tage bevor meine Frau starb, riet ihr die Ärztin, sich auch auf das Neue zu freuen, auf einen Moment voller Liebe, Licht und Freude – wie ihn Menschen in Nahtoderlebnissen beschreiben. Sie konnte die Gefühle mit biochemischen Vorgängen im Körper erklären: Die versagende Leber vergiftet den Körper und vernebelt die Sinne. Diese Vorstellung hat mir geholfen.

Welchen?

Er darf kein Tabuthema sein. Für mich ist das Leben in Bewegung, vergleichbar mit einem fahrenden Zug. Ich kann an einer Station aussteigen, zum Beispiel in Steinmaur, wo wir jetzt sind. Um in der Metapher zu bleiben: Meine Frau ist bis Dielsdorf weitergefahren. Wir kommen irgendwoher, wir verweilen auf dieser irdischen Welt, und wir gehen irgendwohin weiter. In meiner Vorstellung ist der Tod, oder was vorher und nachher kommt, etwas Grösseres, als unser abstraktes Denken verarbeiten kann. Irgendwo muss meine Frau als Energie noch vorhanden sein, sie ist um uns herum.

Sind Sie gläubig?

Ich bin römisch-katholisch, so steht es jedenfalls auf der Steuererklärung (lacht). Ich glaube nicht an Gott in einer bestimmten Gestalt, sondern ich glaube an ein grosses Ganzes, zu dem wir gehören wie alle Lebewesen.

Inwiefern hat Ihnen Ihre Spiritualität geholfen, als Ihre Frau starb?

Meine Frau ging schon länger zu einer Ärztin, die zwar Schulmedizinerin ist, aber sogenannte integrative Onkologie anbietet. Dazu gehörte auch die Auseinandersetzung mit spirituellen Fragen. Ich durfte sie in der Schlussphase ebenfalls kennenlernen. Drei Tage bevor meine Frau starb, riet ihr die Ärztin, sich auch auf das Neue zu freuen, auf einen Moment voller Liebe, Licht und Freude – wie ihn Menschen in Nahtoderlebnissen beschreiben. Als medizinisch ausgebildete Person konnte sie die Gefühle mit biochemischen Vorgängen im Körper erklären: Die versagende Leber vergiftet den Körper und vernebelt die Sinne. Diese Vorstellung hat mir geholfen.

Beginnt die Trauerarbeit schon vor dem Tod?

Ich würde sagen, ich habe den grösseren Teil schon geleistet, bevor meine Frau starb. Deshalb war es danach auch etwas leichter für mich. Die Tränen sind schon in den dreieinhalb Jahren zuvor geflossen und zwar literweise.

Wann realisierten Sie, dass Ihre Frau sterben wird?

Erst zweieinhalb Wochen vorher so richtig. Ich war auf einer Geschäftsreise nach Wien, und meine Frau rief mich nach dem Besuch beim ayurvedischen Therapeuten an. Sie sagte, es sehe schlecht aus, sie brauche unbedingt Wurzeln vom gelben Enzian. Ich solle diese in Österreich besorgen. Ausserdem wolle der Therapeut ein Wundermittel auf Quecksilberbasis für sie bestellen. Ich rief ihn daraufhin an und wollte wissen, wie es um sie steht. Er machte mich darauf aufmerksam, dass ihre Augen gelblich gefärbt sind. Das sei ein schlechtes Zeichen. Er riet uns die Zeit, die wir noch hätten, zu geniessen. Für mich brach – erneut – eine Welt zusammen, es war vermutlich Welt Nummer drei.

Was war mit dem Wundermittel?

Es gelang dem Therapeuten noch, das Medikament trotz Coronakrise in Indien zu beschaffen, und meine Frau konnte es noch einnehmen. Es rettete sie zwar nicht, nahm ihr aber die Schmerzen.

Hatten Sie andere Symptome?

In ihrer Bauchhöhle sammelte sich Wasser an, sogenannte Aszites. Dadurch wurde die Haut enorm gedehnt und schmerzte. Mit einer Drainage, die die Flüssigkeit abfliessen liess, konnten wir ihr etwas Linderung verschaffen. Zu diesem Zeitpunkt kam auch Palliaviva das erste Mal zu uns.

Ihre Frau und Sie brauchten das mobile Palliative-Care-Team kaum. Weshalb?

Der Zeithorizont hat gar nicht erlaubt, mehr Hilfe anzufordern. Am Schluss ging es rasend schnell. Insgesamt würde ich trotzdem sagen, dass das Tempo optimal war. Zu Palliaviva, beziehungsweise zu Frau Zimmermann möchte ich Folgendes anfügen: Gleich beim ersten Telefonat hat sie mir viel Organisatorisches abgenommen. Sie gab uns in den beiden Besuchen dann genau die technischen Informationen, die wir brauchten. Ihre Art gab mir zudem irgendwie auch den Mut, die pflegende Unterstützung gut zu meistern.

Meine Frau wollte weitere Alternativen ausprobieren und versuchte es deshalb mit der integrativen Onkologie, spezieller Ernährung und Ayurveda. Sie meditierte bereits sehr viel zu diesem Zeitpunkt. Sie legte eine totale, mentale Stärke an den Tag.

Was meinten Sie mit dem optimalen Tempo?

Als man den Brustkrebs meiner Frau entdeckte, hatte sie bereits Metastasen auf der Leber. Zudem war es eine sehr aggressive Krebsart. Man hatte die Krankheit aber 3,5 Jahre im Griff, bis im Sommer 2019. Die Hormontherapie zeigte keine Wirkung mehr. Eine klassische Chemotherapie kam für meine Frau zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Frage. Auch ihre Onkologin war vom Erfolg einer erneuten Chemotherapie nicht überzeugt, die zudem starke Nebenwirkungen gehabt hätte. Meine Frau wollte weitere Alternativen ausprobieren und versuchte es deshalb mit der integrativen Onkologie, spezieller Ernährung und Ayurveda. Sie meditierte bereits sehr viel zu diesem Zeitpunkt. Sie legte eine totale, mentale Stärke an den Tag. Genau heute vor einem Jahr, am 20. Mai 2020, assen wir das letzte Mal auswärts und fuhren sogar noch in die Lenzerheide zum Wandern. Kurz zuvor hatte meine Frau erfahren, dass jegliche Arten von Therapien keine Wirkung zeigen und nicht mehr gegen den Krebs helfen.

Ihre Frau war kaum bettlägerig.

Meine Frau kochte zwei Wochen vor ihrem Tod noch für Gäste. Danach übernahm ich den Haushalt, kümmerte mich um die Kinder. Eine Woche vor ihrem Tod ritt sie noch aus – sie liebte Pferde – wobei dieser letzte Ritt wohl kein Vergnügen mehr war. Die letzten drei Tage gab ich ihr das Essen ein. Sie lag eigentlich nur zwei Tage im Bett.

Wie ist sie gestorben?

Es war in der Nacht. Nach einer unruhigen Phase sassen wir am Bettrand, meine Frau lehnte sich an mich, war schliesslich völlig entspannt. Mein Zeitgefühl war verzerrt: Es mag eine halbe Stunde gewesen sein, kam mir aber wie eine Ewigkeit vor. Ich hörte sie atmen und merkte, dass ihr Atem langsamer wird. Die Abstände zwischen den Atemzügen wurden grösser. Irgendwann kam einfach kein Atemzug mehr.

Und dann?

Zuerst überkam mich ein Glücksgefühl. Ich dachte: Sie hat’s geschafft. Sie konnte zu Hause in meinen Armen gehen – das war unser Wunsch gewesen. Denn die letzten 48 Stunden waren weder für sie noch für uns schön gewesen. Der Glücksmoment hielt jedoch nur etwa zwei Minuten an. Dann kam der Schmerz.

Plötzlich kam der 7-Jährige mit etwa sechs Nachbarskindern im Schlepptau an. Sie sagten, sie wollten «das tote Mami» anschauen gehen (lacht). Das erlaubte ich natürlich nicht. Aber der jüngere Sohn hatte absolut keine Scheu vor dem toten Körper seiner Mutter.

Wo waren Ihre Kinder, als Ihre Frau starb?

Am Schlafen. Der 10-Jährige erwachte wegen meines Weinens und kam zu uns. Ich sagte ihm, Mami sei jetzt in den Himmel gegangen. Er sah sie bei mir sitzen, mit weit offenem Mund. Das hat ihn wohl etwas verstört. Er wollte sie vermutlich deswegen danach nicht mehr sehen. Wir behielten meine Frau einen weiteren Tag zu Hause, damit sich ihre Familie auch von ihr verabschieden konnte. Es war ein Kommen und Gehen. Plötzlich kam der 7-Jährige mit etwa sechs Nachbarskindern im Schlepptau an. Sie sagten, sie wollten «das tote Mami» anschauen gehen (lacht). Das erlaubte ich natürlich nicht. Aber der jüngere Sohn hatte absolut keine Scheu vor dem toten Körper seiner Mutter. Er und ich schliefen sogar noch eine Nacht neben ihr. Am Morgen sah man ihr den Tod deutlicher an. Die Augen waren eingefallen. Der zufriedene Ausdruck war verschwunden. Dann wusch ich sie, zog ihr die geliebten Kleider an. Die Bestatter waren sehr respektvoll. Die Kinder durften ihr noch Stofftiere und selbstgemachte Armbändeli in den Sarg legen.

Sie haben die Kinder direkt einbezogen.

Ja, Ehrlichkeit, direkte Konfrontation ist sicher nicht immer schön, aber am besten. Das ist meine Lebensphilosophie. Es kommt eh alles raus. Meiner Frau war es zum Beispiel peinlich, als ich sie vor den Kindern füttern musste. Ich sagte: Egal, sie sehen es sowieso. Ich denke, das ist auch eine Lebensvorbereitung. Das Leben ist zwar schön, kann aber auch tough sein.

Das Gespräch wurde am 20. Mai 2021 geführt.

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