Der Seelenverwandte zieht sich zurück
12.01.21
Erica Ruf beschreibt das Sterben ihres Mannes als Rückzug, den sie friedlich erlebte. Sie beide hätten mit Palliaviva-Mitarbeiterin Evi Ketterer über ihre Ängste sprechen können.
Am 5. Juni 2020 wusste Erica Ruf, dass ihr Mann nicht mehr lange zu leben hat. Sie hatte ihn zur Onkologin begleitet, die ihnen eröffnete, dass die Krebszellen resistent gegen jegliche Art von Therapie geworden seien und sich explosionsartig vermehrten. Erica Ruf sitzt nur wenige Monate später am langen Esstisch in ihrem offenen Esszimmer.
Markus Rufs metastasierter Tumor, der sich zuvor bereits in der Blase befand, hatte sich auch in der Niere verbreitet. Das Ehepaar wollte wissen, wie viel Zeit ihnen bleibt. Ob sie Pläne hätten, fragte die Onkologin zurück. Ja, sie wollten in zwei Jahren umziehen, in ein modernes Alterswohnprojekt. «Das könnte knapp werden», sagte die Ärztin.
Markus und Erica Ruf fuhren nach Einsiedeln, an ihren Kraftort. Dort sassen sie, waren ratlos. Klar war ihnen einzig, dass sie ihre drei Töchter – zwei leibliche und eine Pflegetochter – informieren müssen. Am Abend auf der Terrasse erklärten sie ihnen die ausweglose Situation. «Alle weinten. Aber irgendwie war es auch schön. Jemand sagte plötzlich: Habt ihr auch Hunger? Wir bestellten Pizza und öffneten einen Prosecco.»
Viele wussten gar nicht, dass mein Mann Krebs hat. Man sah ihm die Krankheit lange nicht an.» Erica Ruf, pflegende Ehefrau
Diesem Tag vorausgegangen war eine lange Krankheitsgeschichte. Markus Ruf hatte die Erstdiagnose Prostatakrebs 2011 erhalten. Danach folgten diverse Untersuchungen, Therapien und Operationen, die ihm stets ein paar Jahre Ruhe verschafften.
Markus Ruf führte die eigene Kommunikationsagentur, gestaltete Firmenauftritte, hatte Erfolg. «Viele wussten gar nicht, dass Markus Krebs hat», erzählt Erica Ruf. Er habe seine Krankheit niemandem verheimlicht, man sah sie ihm jedoch lange nicht an. Er integrierte den Krebs in seinen Alltag, ohne ihm zu viel Gewicht zu geben. Er sei einfach zwischendurch zur Chemo gefahren.
Nichts mehr aufschieben
Dennoch drängte ihn seine Frau, das Geschäft aufzugeben, sich frühpensionieren zu lassen. Das tat er vor zwei Jahren, mit 63 Jahren. Er arbeitete nur noch für wenige Kunden und ging seiner Leidenschaft, dem Schreiben, nach. Ausserdem beschlossen das Paar, nichts mehr aufzuschieben, weder schöne Wochenenden und Ferien noch den Kauf eines neuen Autos.
Sie seien Seelenverwandte gewesen, auch wenn sie selbstbestimmt ihre eigenen Leben geführt hätten, charakterisiert Erica Ruf ihre Beziehung. Sie hatte sofort eingewilligt, über Krankheit, Sterben und Tod ihres Mannes zu sprechen. Das Reden helfe ihr beim Trauern, sagte sie.
Schreiben gegen die Angst
In Anbetracht seiner schwindenden Zeit entband Erica Ruf ihren Mann von seinen Pflichten im Haushalt. Er hatte nämlich den sehnlichen Wunsch, seinen Roman zu beenden, den er einst in einem Sabbatical-Jahr begonnen hatte. Er benötige dafür zwei Monate, sagte er voraus.
Daraufhin sei er stundenlang im Wohnzimmer gesessen und habe an seinem Laptop gearbeitet, erzählt Erica Ruf. In dieser Zeit kam Evi Ketterer von Palliaviva zum ersten Mal vorbei. Sie sprach mit ihm übers Schreiben und übers Sterben. Er sagte, dass ihm das Schreiben helfe, seine Krankheit zu bewältigen und die Angst vor dem Tod zu verarbeiten. Er, der stets Tagebuch geführt hatte, schrieb ausser dem Roman in sogenannten «Seelengesprächen» seine Ängste nieder, und er verfasste einen Abschiedsbrief an Familie und Freunde.
Markus Ruf hoffte, nach dem Sterben ihrer jüngsten Tochter wieder zu begegnen. Diese war als 17-Jährige von einem Tag auf den anderen an einer Hirnhautentzündung gestorben.
Markus Rufs Wunsch war es, zu Hause zu sterben. Seine Frau willigte ein, stellte aber Bedingungen: Sie wollte die Körperpflege nicht übernehmen, er musste also die Spitex akzeptieren, und alle zwei Abende mit einer Freundin essen. Dafür nahm sie ihren Laptop nach Hause und erledigte Buchhaltungs- und HR-Aufgaben für ihre private Kinderkrippe von zu Hause aus.
Evi Ketterer von Palliaviva brachte viel Leichtigkeit in die schwierige Situation. Ihre Besuche kamen mir oft vor wie eine OK-Sitzung vor einem Lager.» Erica Ruf, pflegende Ehefrau
Erica Ruf konnte mit Ketterer ebenfalls über ihre Ängste sprechen. Sie fürchtete, ihr Mann würde «abserbeln». Die Pflegefachfrau nahm ihr diese Angst. «Sie brachte viel Leichtigkeit in die schwierige Situation. Ihre Besuche kamen mir oft vor wie eine Sitzung des Organisationskomitees vor einem Schullager, praktisch, herzlich, konkret.» Als pflegende Angehörige war sie unter anderem froh um die Medikamentenbox – «darin von Dafalgan bis Morphium alles» – und die 24-Stunden-Pikett-Nummer. «So konnte ich mir den Weg des Sterbens zu Hause vorstellen.»
In dieser allerletzten Phase seien sie sich als Ehepartner immer noch nahe gewesen. «Auch wenn er nicht mehr so viel sprach. Er zog sich allmählich zurück.» Als das Buch fertig war – ein Literatur-Agent hatte es noch gelesen und gelobt –, übergab er ihr alle Passwörter für seinen Computer und rührte ihn danach nicht mehr an.
Morgens schleppte sich Markus Ruf stets vom Schlafzimmer aufs Sofa. Als das zu beschwerlich wurde, bestellten sie ein Pflegebett. Er wollte im Wohnzimmer liegen und durch die Fensterfront ins Grüne schauen. «Als er ins Pflegebett umzog, war mir bewusst, dass das seine letzte Reise ist.» Zu Beginn checkte er noch Fussballresultate auf dem Handy oder las WhatsApp-Nachrichten. Bald legte er das Smartphone und die Brille aber ebenfalls weg. Im August wollte er keinen Besuch mehr empfangen ausser den Töchtern und ihren Partnern.
In der Nähe, aber nicht mehr zu nah
Die Rolladen blieben meist schräg gestellt, er sei licht- und lärmempfindlich geworden und schlief immer mehr. Die Familie wollte er in der Nähe haben, aber nicht zu nah. Die ideale Konstellation: Er im Wohnzimmer, sie auf der Terrasse. Mit den drei Töchtern führte er je noch ein tiefes Gespräch und gab ihnen etwas mit auf den Weg.
Die letzten Nächte kam eine Pflegefachfrau von Orbetan, einer Stiftung für professionelle Nachtwachen, zur Unterstützung hinzu. Der Patient konnte zudem plötzlich nachts nicht mehr schlafen und bekam deswegen kontinuierlich Schlaf- und etwas Schmerzmittel verabreicht. Das lange Liegen bereitete ihm zunehmend Schmerzen.
Hilfe in der Trauer
Am 20. August verlor er das Bewusstsein, reagierte nicht mehr auf Ansprache. Die Mitarbeiterin von Orbetan beruhigte Erica Ruf, die einen Todeskampf erwartete. Sie nahm ihr ausserdem die Angst vor der Rasselatmung, einer lautstarken Form des Atmens, die vom nicht mehr abgehusteten Schleim herrührt, den Patienten aber nicht mehr stört.
Es war der Morgen des 21. Augusts. Erica Ruf informierte ihre Töchter. Wie besprochen, wollte nur eine der drei im Todesmoment dabei sein. Der Mutter war wichtig, dass sich niemand unter Druck fühlte und sich frei entscheiden konnte. Eine Stunde, nachdem die Tochter eingetroffen war, tat Markus Ruf seinen letzten Atemzug.
Erica Ruf erzählt gefasst, mit einem leichten Lächeln im Gesicht. Dieses Erlebnis habe sie tief beeindruckt und ihr die Angst vor dem eigenen Tod genommen. Evi Ketterer und dem ganzen Pflegeteam sei es gelungen, ihr Vertrauen zu stärken, das Sterben zu Hause ermöglichen zu können. «Ich habe das Ganze als etwas sehr Natürliches erlebt.» Dieses Wissen helfe ihr nun auch in ihrer Trauer.