Der Young Carer

07.09.22

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Young Carer

Noel Roth (21) hat als junger Mensch eine Erfahrung gemacht, die sein Leben veränderte. Er begleitete seine Mutter, die an einem aggressiven Hirntumor erkrankt war, bis zum Tod. Nun will er neue Kräfte sammeln und denkt über eine Ausbildung in der Pflege nach.

Ende Oktober 2021 starb Irmgard Roth zu Hause im Kreis ihrer Familie im Embrach. Ihr Sohn Noel hatte ihren Wunsch, trotz schnell verlaufender schwerer Krankheit zu Hause bleiben zu können, möglich gemacht. Die letzten drei Nächte sei er praktisch wach geblieben, erzählt der 21-Jährige an einem gewittrigen, schwülen Sommerabend in der Gartenlaube hinter dem Reiheneinfamilienhaus am Dorfrand von Embrach. Er wohnt dort mit seinem Vater und seinem jüngeren Bruder . «Ich sass praktisch die ganze Zeit neben ihr. Als sie dann gestorben war, spürte ich richtig, wie ihre Seele ihren Körper verliess. Mein eigener Körper hat sich wie auf Kommando runtergefahren, und ich entspannte mich.»

Wie geht es dir heute, neun Monate danach?

Grundsätzlich gut. Es gibt aber immer noch Phasen, in denen mich der Verlust sehr schmerzt, zum Beispiel an ihrem Geburtstag oder wenn ich Pferde sehe, die sie so geliebt hat. Dann hadere ich mit meinem Schicksal. Grundsätzlich komme ich aber besser mit ihrem Tod klar, als ich gedacht hätte.

Der 21-Jährige jobbt momentan im Betrieb eines Freundes seines Vaters, mit der Aussicht, fest angestellt zu werden. Eine abgeschlossene Lehre hat er nicht. Nach der obligatorischen Schulzeit half Noel Roth seiner Mutter in ihrem Pferdestall mit. Sie beherbergte 24 Pferde. Er kümmerte sich um die schweren Lasten, wuchtete Heu und Stroh herum und richtete den Miststock. Mutter und Sohn arbeiteten Hand in Hand, sieben Tage die Woche. Er verdiente zehn Franken im Tag und traf abends seine Freunde. Als sich herausstellte, dass seine Mutter an einem aggressiven Hirntumor erkrankt war, verzichtete er darauf, eine Lehrstelle zu suchen, und widmete sich ganz ihrer Begleitung und Pflege.

Zurück zum Ex-Mann

Die Krankheit machte sich bei Irmgard Roth bemerkbar, indem sie mehrmals wie aus dem Nichts das Gleichgewicht verlor und rückwärts stürzte. Abklärungen im Spital ergaben, dass sie an einem Glioblastom erkrankt ist. Sie sei ziemlich lange in der Klinik geblieben und habe dort sofort Therapien erhalten, erzählt ihr Sohn. «Als ich sie das nächste Mal sah, konnten sie bereits nicht mehr gehen und sass im Rollstuhl.». Nach einem längeren Reha-Aufenthalt zogen die beiden zu Irmgards Schwester, Noels Tante, auf den Walenstadtberg. Zuvor hatten Mutter und Sohn in einem Wohnwagen gelebt, denn die Eltern befanden sich in Trennung. Bei der Tante ging es aber vom Platz her nicht, zudem war die Tante, die Pflegefachfrau ist, bereits sehr belastet. Noel rief kurzerhand seinen Vater an und fragte, ob sie nach Hause kommen könnten. Ein paar Tage später standen die beiden in Embrach vor der Tür.

Auch an diesem Gewitterabend ist Noels Vater Martin mit von der Partie. Er serviert kühlen Eistee, sitzt danach im Hintergrund, hört zu und hilft, wenn Noel Gedächtnislücken hat.

Während Martin als Ex-Partner und der jüngere Sohn mit der sich schnell verschlechternden Situation von Irmgard Roth überfordert waren und sich eher zurückzogen, packte Noel voll mit an. Neben der Spitex unterstützte er seine Mutter täglich bei der Körperpflege und Mobilisation. Ausserdem half er mit, bürokratische Hürden zu überwinden, etwa um eine Invalidenrente zu beantragen. Die Familie hatte kürzlich in den Bau eines zweiten Pferdestalls investiert. Irmgard Roths schwere Krankheit machte diese Pläne zunichte und traf sie auch in finanzieller Hinsicht auf dem falschen Fuss.

Das Versprechen

Der junge Mann fand mit fachlicher Unterstützung für das Geldproblem eine kurzfristige Lösung: Er liess sich mit Hilfe der Organisation AsFam bei der Spitex anstellen und wurde täglich etwa für drei Stunden Betreuung und einzelne Pflegeleistungen bezahlt. Das kam den beiden gelegen. So hätten sie genug Geld für den Alltag gehabt, sagt Noel, zum Beispiel für Zigaretten.

Du hast Unglaubliches geleistet, hast ermöglicht, dass deine Mutter zu Hause sterben konnte. Der Pflege- und Betreuungsaufwand war enorm. Weshalb ging sie nicht ins Pflegeheim?

Ich war absolut dagegen. Sie wollte das Pflegeheim als Plan B haben, um mich zu entlasten. Ich war ziemlich stur und hab blöd getan. In Sachen Pflegheim – sorry, Mama – hab ich sie gar nicht unterstützt.

Weshalb war dir so wichtig, dass sie zu Hause blieb?

Als sie die Diagnose erhielt, sagte sie, sie wolle daheim bleiben, sie wolle nicht eingesperrt werden. Ich schwor ihr, dass wir das gemeinsam durchziehen. Ich blieb hartnäckig.

Wie hast du durchgehalten?

Ich bin extrem stur und habe es ihr versprochen, komme, was wolle. Ich habe nicht von Anfang an gewusst, dass es so intensiv wird. Aber ich wusste, dass ich durchbeissen werde. Ich bin stolz, dass auch sie mitgemacht hat. Mein Gedanke war: Sie putzte mir drei Jahre lang das Füdli. Dann schaffe ich das bei ihr auch.

Du sagtest mal, euer System habe super funktioniert, wenn man dir nicht reingeredet habe. Wer hat sich eingemischt?

Kolleginnen meiner Mutter. Sie meinten es gut, machten aber zu viel Druck. Sie wollten, dass sie ins Pflegeheim geht. Sie kamen zum Beispiel einmal einfach vorbei und holten sie für eine Besichtigung ab. Ich musste ihre Sachen packen, war freundlich und bin mitgegangen. In der Institution hat es mir aber grad abgelöscht. Die Kolleginnen meiner Mutter erzählten herum, ich sei überfordert mit ihrer Pflege, zum Beispiel mit dem Säubern untenrum. Ehrlich gesagt war das schon eine Herausforderung, vor allem, sie intim zu waschen. Sie ist schliesslich meine Mutter. Aber mit der Unterstützung meines Vaters oder von Freundinnen meiner Mutter hatte ich es immer im Griff.

Bewusstsein für Young Carers wächst

Die Rolle, die Noel Roth bei der Begleitung seiner schwerkranken Mutter eingenommen hat, nennt man im Fachjargon Young Carer. Die Fachwelt legt vermehrt ein Augenmerk auf dieses Phänomen. Als Young Carers werden Minderjährige verstanden, die Verantwortung für eine kranke oder behinderte Person in ihrem Umfeld übernehmen. Noel Roth gilt streng genommen nicht mehr als solcher, weil er bereits 19 Jahre alt war, als seine Mutter erkrankte. Trotzdem wird diese Erfahrung seinen Lebensweg, konkret seine Berufswahl, prägen. An der Careum Hochschule Gesundheit in Zürich läuft aktuell ein umfassendes Forschungsprogramm über Young Carers, das auch Unterstützungsangebote auf die Beine stellt. Noel Roth konnte dort seine Erfahrungen bereits einbringen.

Noels Mutter litt unter verschiedenen Symptomen, ausgelöst durch den Hirntumor, zum Beispiel unter einem Pilzbefall im Mund. Sie hatte ausserdem Spasmen, vor allem in den Armen, die sie unwillkürlich verkrampfe und an sich zog. Eine Physiotherapeutin zeigte Noel, wie er mit einer Massage der Triggerpunkte die Verkrampfungen lösen konnte. Die Patientin lagerte ausserdem in den Beinen und im Gesicht Wasser ein, als Folge der Medikamente. Sie habe über dreissig Tabletten im Tag schlucken müssen, erinnert sich Noel. «Das Schlimmste war eigentlich, dass die Krankheit auch ihr Wesen verändert hat. Manchmal wurde sie wie aus dem Nichts aggressiv. Danach konnte sie sich zwar auch entschuldigen. Es hat sie belastet, mich zu belasten.»

Irmgard Roths Mobilität war rasch eingeschränkt, dafür konnte sie praktisch bis zu ihrem Tod kommunizieren. Noels Vater Martin erzählt, dass sie drei Tage vor dem Sterben alle zusammen im Garten gegessen hätten. «Sie konnte fast bis zuletzt noch sprechen und verstand uns auch. Sie war sehr gesellig, tauschte sich gerne mit Menschen aus. Erst zwei Tage vor ihrem Tod stöhnte sie nur noch.»

Zufälliger Kaffeeklatsch

Noel und seine Mutter zogen es zu Hause durch. Sie wurden von Freundinnen und Nachbarn unterstützt. Der Sohn suchte regelmässig Ausgleich beim Krafttraining. In dieser Zeit schaute eine Nachbarin nach der Mutter. Diese fand es zwar nicht nötig, Noel fädelte es aber so ein, dass die Nachbarin zufällig – er malt Gänsefüsschen in die Luft – zum Kaffee vorbeischaute, wenn die Mutter alleine war. Noels Freunde besuchten ihn abends zu Hause. Ausserdem habe er immer Kraft tanken können, wenn die Spitex morgens für die Grundpflege vorbeikam. Er habe selbst geduscht, seiner Mutter den Fernseher eingestellt und sich noch einmal für eine Stunde ins Bett gelegt. «Ich fühlte mich nach dieser Stunde Schlaf komplett erholt.»

Noel Roth suchte sich in den letzten drei Monaten auch wöchentliche psychologische Unterstützung im Turmhaus der Krebsliga in Winterthur. Er konnte dort seine Sorgen und Probleme einer neutralen Fachperson  anvertrauen. Die Beraterin half ihm sogar dabei, eine teure Wechseldruck-Matratze zu besorgen, damit seine Mutter nicht wund lag. Eine Aufgabe, an der der junge Mann die längste Zeit gescheitert war. Zwei Tage bevor sie starb, wurde die Miet-Matratze geliefert. «Das hat sich trotzdem gelohnt. Auch wenn die Lieferung schneller hätte gehen können», so sein nüchternes Fazit. Die erste Zahlung der Invalidenversicherung traf im Übrigen einen Tag nach ihrem Tod ein.

Acht Monate bevor deine Mutter starb, kam auch Palliaviva ins Spiel. Wie könnten die spezialisierten Pflegenden euch helfen?

Diese Unterstützung war neben der Spitex enorm wichtig. Ich hatte im Hinterkopf, dass ich nicht den Krankenwagen alarmieren muss, wenn etwas ist. Sondern ich hatte eine sichere Stelle, an die ich mich wenden konnte. Ich habe wohl drei bis vier Mal in der Nacht oder am Wochenende angerufen. Gegen Schluss hatte meine Mutter derart Schmerzen, dass die üblichen Medikamente nichts mehr nützten. Die Ratschläge, die ich erhielt, haben funktioniert.

Aussergewöhnlich an deiner Mutter als Patientin war, dass sie selbst noch dem Palliaviva-Team Schokolade und eine Dankeskarte mit echtem Lippenstift-Kuss schickte. Ausserdem plante sie auch ein Fest für alle Helferinnen und Helfer.

Ja, sie wollte sich bei allen Nachbarn und Freundinnen, die geholfen haben, mit einem Fest bedanken. Sie konnte diese Feier, die im September 2021 stattfand, sogar noch geniessen. Das war ihre Art: Sie gab nichts aus der Hand und plante auch ihre Beerdigung selbst. Wir konnten es fast genauso durchführen, wie sie es sich gewünscht hatte. Ich hab nur noch Luftballone hinzugefügt. Wir haben ihr damit einen Gruss in den Himmel geschickt.

Konntet ihr beide gut übers Sterben sprechen?

Ja, das ging oft von ihr aus. Sie hatte konkrete Jenseits-Vorstellungen. Sie sagte etwa, sie werde uns nach ihrem Tod als Schmetterling besuchen. Wir haben häufig weisse Schmetterlinge im Garten. Ich trage deshalb auch dieses T-Shirt mit einem Schmetterling. Ausserdem sagte sie immer, wenn ich niesen müsse, sei sie es gewesen, die mich gekitzelt habe.

Die Pflegenden von Palliaviva, und auch von der Spitex, waren beeindruckt, wie du alles gemanagt hast. Mehrere Personen sprachen dich darauf an, ob du nicht den Pflegeberuf erlernen möchtest. Denkst du darüber nach?

Ich habe mir viele Gedanken über meine Zukunft gemacht. Ich habe ein intensives, anstrengendes Jahr hinter mir. Nun will ich mich psychisch erholen können und ein bisschen Geld verdienen. Ich stresse mich nicht. In eineinhalb bis zwei Jahren beginne ich ernsthaft mit einer Ausbildung. Das ist mal der Plan. Ich durfte bei der Spitex schnuppern, und ja, ich könnte mir etwas in dieser Richtung vorstellen.

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