Die letzte Reise aus der Ukraine
15.02.23
Die schwerkranke Frau M. ist vor dem Krieg in die Schweiz geflüchtet. Die Ukrainerin leidet an fortgeschrittenem Brustkrebs und wird von Palliaviva und der Spitex begleitet. Für vieles fehlen die Worte, doch die Kommunikation findet auch auf der emotionalen Ebene statt.
«Ihr grösster Wunsch ist es, zuhause zu sterben», heisst es in der Krankengeschichte von Frau M. Sie ist, ein Jahr nach dem Beginn des Krieges, Patientin von Palliaviva. Betreut wird sie seit Herbst 2022 von Palliaviva-Mitarbeiterin Rose Marij Wijnands, die sie ein bis zwei Mal pro Woche besucht.
Die Palliative-Care-Spezialistin arbeitet eng mit den Pflegefachfrauen der Spitex Rafz zusammen. Die Spitex übernimmt die tägliche Pflege von Frau M., die bereit ist, ihre Geschichte zu erzählen, aber nicht mit ihrem richtigen Namen genannt werden möchte. Im Zentrum der palliativen Betreuung stehen bei ihr die Schmerzsymptomatik, Wundversorgung und Fatigue, eine chronische Erschöpfung. Erschwert wird die Verständigung durch die Sprachbarriere.
Die Schmerzpumpe sorgt für Stabilisierung
Es ist ein Freitagnachmittag im Februar, an dem Rose Marij Wijnands ihr Auto auf dem Parkplatz einer Wohnsiedlung abstellt. Sie nimmt ihre Tasche vom Rücksitz und geht zu einem Mehrfamilienhaus, wo Frau M. zusammen mit ihren zwei Töchtern wohnt. In derselben Wohnung leben zwei weitere Frauen mit ihren Kindern. Die Türe wird von einer der Töchter von Frau M. geöffnet. Annemarie Rutschmann von der Spitex ist bereits da.
Rose Marij Wijnands (links) mit ihrer Kollegin Annemarie Rutschmann von der Spitex Rafz.
Die Töchter, beide Mitte Zwanzig, sind zurzeit am Deutschlernen. Sie leben mit ihrer Mutter in einem einzigen Zimmer und helfen zusammen mit den anderen Mitbewohnerinnen intensiv bei der Betreuung. In dem Zimmer befindet sich das gesamte Hab und Gut, das die Mutter und die Töchter bei ihrer Flucht aus der Ukraine mitgenommen haben: In einer Ecke des Raumes hängen Kleider an Stangen und liegen Schuhe am Boden. Daneben steht das Kajütenbett der Töchter, vis-à-vis das Pflegebett der Mutter. Auf einem Nachttischchen brennt eine Kerze in einer rosaroten Duftlampe. Im Zimmer wohnen auch ein Hund und eine Katze. Die Platzverhältnisse sind sehr eng.
Ein inoperabler Tumor in der Brust
Frau M. sitzt am Bettrand. Sie ist von ihrer Krankheit gezeichnet, hat kurze, dichte Haare, blaue Augen und lächelt freundlich. Mit dem rechten Arm stützt sie sich auf einem Kissen ab. Die Pumpe mit Medikamenten gegen Schmerzen und Übelkeit liegt in einem blauen Täschchen auf dem Bett. Das Gerät ermöglicht es Frau M., die Dosis, die durch einen implantierten Katheter verabreicht wird, selbst zu kontrollieren. «Seit sie die Schmerzpumpe hat, geht es ihr ein wenig besser», sagt Rose Marij Wijnands. «Frau M. ist zwar sehr schwach, aber ihr Zustand ist stabiler.»
Die Palliaviva-Mitarbeiterin und Annemarie Rutschmann von der Spitex fassen die Krankengeschichte von Frau M. zusammen: Die 50-Jährige leidet an Brustkrebs im fortgeschrittenen Stadium. Der Tumor hat eine exulzerierende Wunde verursacht, das heisst, er ist durch die Haut gewachsen. Als Frau M. vor einem Jahr in die Schweiz kam, war der Krebs bereits inoperabel; Chemo- und Strahlentherapie brachten keine wesentliche Verbesserung. Im Herbst dachte Frau M. noch an eine Rückkehr in die Ukraine, in der Hoffnung, dass es ihr dort besser gehen würde.
Die Nichte übersetzt am Telefon
Schliesslich äusserte Frau M. an einem Familiengespräch den Wunsch, bei einer Verschlechterung nicht mehr ins Spital gebracht zu werden, sondern in der Wohnung zu bleiben. «Sie wird nicht nur von den Töchtern betreut, sondern ist in eine religiöse, familiär geprägte Gemeinschaft eingebunden», erzählt Rose Marij Wijnands. «Auch die Gastfamilie, die sie ursprünglich aufgenommen hatte, kümmert sich bestens um sie.» Alle in ihrem Umfeld wüssten Bescheid, wie es ihr gehe. «Die Töchter wissen, dass es sein kann, dass ihre Mutter im Schlaf stirbt und am Morgen nicht mehr aufwacht.»
Die Kommunikation mit Frau M. ist schwierig, denn die Patientin spricht nur ihre Muttersprache, die Töchter wenig Englisch und noch kaum Deutsch. Um dem gerecht zu werden, wurde das Aufnahmegespräch, an dem auch Palliaviva-Konsiliarärztin Beatrice Schäppi teilnahm, mit einem soziokulturellen Dolmetscher geführt. Im Alltag springt als Übersetzerin jeweils eine Nichte von Frau M. ein, die zurzeit in Spanien lebt und sehr gute Deutschkenntnisse besitzt. Rose Marij Wijnands hat mit ihr vereinbart, dass sie immer dann telefonieren, wenn die Palliaviva-Mitarbeiterin zu Besuch ist – also auch jetzt. Die Nichte erzählt am Telefon, sie sei gerade in Georgien in den Ferien gewesen, als der Krieg ausbrach. Seither war auch sie nie mehr zu Hause.
Mit Hilfe der Nichte gelingt das Gespräch mit Frau M. recht gut. Sie erzählt, dass sie geschieden sei und ihre kranke Mutter in der Ukraine bis zu deren Tod 2019 gepflegt habe. Frau M. arbeitete früher als Labormitarbeiterin und hatte mit Gewebsproben zu tun. Dieser Hintergrund, sagt Rose Marij Wijnands, erleichtere etwas den Austausch über die Krankheit. Frau M. antwortet auf die Frage, ob sie bereits in der Ukraine Therapien bekommen habe, man habe ihr Chemotherapie angeboten. Aus Angst habe sie jedoch abgelehnt. Ob hier auch fehlende finanzielle Mittel eine Rolle gespielt haben, bleibt offen.
Sorgen um die Verwandten in der Ukraine
Auf die Nachfrage, wie sie sich zurzeit fühle, sagt Frau M., sie spüre, dass sie sehr schwach sei, aber sie wisse, dass es noch schlechter werden könne. Es sei ihr auch oft übel. Als die Rede auf ihr Betreuungsnetz und die zwei Pflegefachfrauen kommt, lächelt sie: «Ich bin dankbar und glücklich, dass die beiden so viel Geduld mit mir haben», sagt sie zu Rose Marij Wijnands und Annemarie Rutschmann, und einen Moment lang scheinen sie die Emotionen zu überwältigen. «Ich glaube, Sie haben verstanden.»
Wie sehr beschäftigt sie der Krieg in der Ukraine? Frau M. wird zunächst still, senkt den Kopf. Dann erklärt sie, es sei für sie schwierig, die Nachrichten aus der Heimat zu lesen oder im Radio zu hören. Die Töchter aber informierten sich täglich und pflegten ihre Kontakte zu ihren Freundinnen in der Ukraine. «Ich mache mir Sorgen», fügt Frau M. dann hinzu. «Mein Bruder und seine Frau leben immer noch dort.»
Übers Sterben wird offen geredet
Der Bruder und seine Frau sind die Eltern der Nichte, die für Frau M. übersetzt. Die Nichte am Telefon ergänzt, die Verwandten aus der Ukraine kämen demnächst in die Schweiz, um Frau M. zu besuchen. Über das Gesicht von Frau M. huscht erneut ein Strahlen. Sie sagt, sie wünsche sich, noch so lange wie möglich für ihre Töchter da sein zu können.
Rose Marij Wijnands von Palliaviva nimmt Frau M. als sehr bescheiden, zufrieden und ruhig wahr: «Sie ist sehr ausgeglichen. Mich berührt, dass sie ihren Frieden gefunden hat und bereit zu sein scheint, zu sterben.» Die Spitex-Mitarbeiterin Annemarie Rutschmann ist beeindruckt davon, wie offen in der Wohngemeinschaft übers Sterben gesprochen wird. Für sie selbst seien aufgrund der sprachlichen Hürden sehr tiefe Gespräche mit der Patientin leider nicht möglich. «Es fehlen oft die richtigen Worte.»
Austausch unter Fachfrauen
Dasselbe sagt Rose Marij Wijnands. Sie würde Frau M. beispielsweise gerne anbieten, über die Wunde zu sprechen, die durch den wachsenden Tumor entstanden ist. Geht es um Intimitäten, ist sie im Gespräch im Beisein der Nichte zurückhaltend; auch weil sie nicht genau weiss, wie nahe sich die beiden stehen.
Umso wichtiger ist für die beiden Pflegefachfrauen der Austausch untereinander. Sie sind sich einig: Das Beispiel zeigt sehr gut, dass es ein ganzes Betreuungssystem braucht, um eine qualitativ einwandfreie Pflege daheim zu gewährleisten.
Das Zimmer in der Schweiz ist zum Zuhause von Frau M. geworden. Von ihrer Heimat und von ihrem früheren, friedlichen Leben ist sie sehr, sehr weit entfernt. Für eine Reise zurück in die Ukraine ist sie mittlerweile zu krank und zu schwach.