«Die Vorstellung von Himmel und Hölle sind weit verbreitet»
09.02.22
Esther Stampfer ist Palliativ-Seelsorgerin und spricht mit kranken Menschen und ihren Angehörigen über ihre Sorgen und Ängste. «Hat jemand Angst vor der Hölle, ist dies häufig ein Ausdruck eines inneren Konflikts», sagt die 34-Jährige, die als Pastoralassistentin in Küsnacht arbeitet.
«Die Seelsorge-Hotline ist für alle da, die sich in einer palliativen Situation befinden und seelsorgerische Begleitung wünschen. Viele Menschen sind nicht mehr bei ihren örtlichen Pfarreien angebunden, so fehlt ein direkter Kontakt. Dann springen wir ein und fall dies die Patientinnen und Patienten wünschen, besucht sie jemand vom Seelsorge-Hotline-Team. Ich bin für das Zürcher Oberland und das rechte Zürichseeufer zuständig.
90 Prozent der Begleitungen weisen uns die ambulanten Palliative-Care-Teams zu, also in meinem Gebiet das GZO-Team oder Palliaviva. Wir nehmen mit den Betroffenen innerhalb von 24 Stunden Kontakt auf, und besuchen sie dann bald, je nach Indikation.
Mit den kranken Menschen spreche ich über ihren Alltag und nicht über medizinische Probleme. Ich bin weder medizinisches Personal noch angehörig. Das ermöglicht, dass sie bei mir ihre Sorgen und Fragen abladen können. Mir kommt kein Vertrauensvorschuss entgegen, sondern ich stelle Vertrauen her, indem ich vorurteilsfrei in die Situationen gehe, die richtigen Fragen stelle und gut zuhöre. Während des Gesprächs frage ich mich stets: Was braucht das Gegenüber von mir? Durch meine Arbeit als Seelsorgerin in der Pfarrei habe ich viel Erfahrung in Gesprächsführung und Intervention, das hilft mir.
Ich sage nach jedem Besuch, dass ich im Hinausgehen leise einen Segen bete und mache das Angebot, dies laut zu tun.
Je nach Vertrauensverhältnis wünscht das Gegenüber vielleicht auch rituelle Angebote. Ich sage nach jedem Besuch, dass ich im Hinausgehen leise einen Segen bete und mache das Angebot, dies laut zu tun. Es kommen beide Reaktionen: Einige sind neugierig oder gerührt und wollen den Segen hören, andere finden, ich solle ihn für mich behalten. Nicht alle sind gläubig, doch spirituell sind fast alle Menschen.
Spiritualität umfasst die Frage nach der dem Woher und Wohin, es geht um Ungewissheit, Zweifel, Schuld, Hoffnungslosigkeit oder Abschiedsschmerz. Spiritual Care bedeutet, wahrzunehmen, was den unheilbar erkrankten Menschen ausserhalb der Medizin beschäftigt. Hilfreich ist, sich Fragen zu stellen wie: Was war? Was gibt Hoffnung? Was schenkt mir Kraft? Die Kraftquellen befinden sich an ganz unterschiedlichen Orten. Bei einigen ist es die Religion, bei anderen das Yoga, bei dritten der Fussballclub. In der Begleitung schaue ich offen und personenzentriert, wie ich bei spirituellen Anliegen und Fragen unterstützen kann.
Häufig haben Menschen am Lebensende Angst vor dem Tod und vor dem, was danach kommt. Die Vorstellung von Himmel und Hölle ist immer noch weit verbreitet.
Werde ich nach meinen Vorstellungen von «Hölle» gefragt, sage ich: Die Hölle ist für mich die Abwesenheit von Liebe. Wenn jemand im Leben keine Beziehungen führen wollte und Gottes Willkommen danach ablehnt, befindet er oder sie sich in einem Zustand, den manche wohl als Hölle bezeichnen würden. Fast undenkbar für mich – denn alle Menschen sind doch auf Liebe ausgerichtet. Nach meiner Erfahrung ist die Angst vor der Hölle ein Zeichen für einen inneren oder einen systemischen Konflikt, zum Beispiel einen Streit innerhalb der Verwandtschaft.
Ich habe Hoffnung, dass sich in der katholischen Kirche etwas zum Positiven wendet, auch wenn es für mich als junge Theologin nicht immer leicht ist.
Die Zahl und Intensität der Begleitungen schwankt. Heute ist die einzige Person gestorben, die ich momentan begleitet habe. Im September waren es sieben Begleitungen gleichzeitig. Ich mache diese Arbeit gern. Neben dem Religionsunterricht für 4.- bis 6.-Klässler*innen, der Vorbereitung auf die Firmung, Gottesdiensten und der Seelsorge in einem Altersheim spiegelt sie einen ebenso wichtigen Teil des Lebens wider und ist eine bereichernde Ergänzung zum alltäglichen Pfarreileben.
Oft werde ich gefragt, warum ich für die katholische Kirche arbeite. Ich stamme aus einem urkatholischen Dorf im Schwarzwald. In der Jugendarbeit durfte ich die tollsten Abenteuer erleben und fing so Feuer für die katholische Kirche, in deren Gemeinschaft ich mich immer sehr wohl fühlte. Sie bedeutet Heimat für mich. Vieles ist seitdem geschehen. Doch ich habe noch Hoffnung, dass sich in meiner Kirche etwas zum Positiven wendet, auch wenn es für mich als junge Theologin nicht immer leicht ist. Aber hinschmeissen kann jeder! Gerade in schwierigen Zeiten zeigt sich, wie wichtig Gemeinschaft und Solidarität sind, wie tragend der Glaube sein kann. So hat sich die Kirche in der Pandemie als verlässlichen Anker für die Menschen gezeigt und viele konnten hier Hoffnung und Trost finden.
Die Pandemie hat sich auch auf die Seelsorge-Hotline ausgewirkt. 2020 haben sich die Anrufe verdoppelt. Sonst spüre ich keinen grossen Einfluss auf die Menschen, die wir begleiten. Die meisten sind bereits allein und isoliert. Schwierig ist, dass sich viele von ihnen nicht impfen lassen können und so weiterhin sozial abgegrenzt sind.
Da bin ich froh, wenn zumindest wir neben dem medizinischen Personal in Kontakt mit den Menschen sind.»
Seelsorge-Hotline für den Kanton Zürich: Tel. 044 554 46 66