«Ich habe nicht den Ehrgeiz, 100 Jahre alt zu werden»

26.01.22

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Beim Erzählen schliesst Franz Buchli oft die Augen. Mit seiner Sehkraft steht es ohnehin nicht mehr zum besten (Bild: sa).

Franz Buchli* hat seine ganze Familie überlebt. Als nach seiner Frau und seinem ersten Sohn auch noch der zweite Sohn starb, fand der 98-Jährige, nun sei die Zeit für eine Patientenverfügung gekommen. Mit Palliaviva lässt er sein Berufs- und Familienleben noch einmal Revue passieren.

Blickt man sich genau in Franz Buchlis* Wohnung um, sieht man kleine Post-It-Zettel mit Namen an Möbeln, Bildern oder Teppichen kleben. Der 98-Jährige ist das letzte Mitglied seiner Familie und hat sich deshalb Gedanken über sein eigenes Ende gemacht. Was soll mit seinem ganzen Hab und Gut geschehen? Er hat genau bestimmt, wer welchen Gegenstand nach seinem Tod bekommen wird.

Der grosse, feingliedrige Mann empfängt den Besuch an der Tür, überlässt ihm den bequemen Lehnstuhl und serviert Mineralwasser. Er nimmt gegenüber auf einem Gartenstuhl Platz.

Franz Buchlis älterer Sohn, René*, starb bereits vor mehr als elf Jahren an einem Blasenkrebs. Vor sechs Jahren starb seine Frau an einem metastasierten Brustkrebs mit Ablegern in der Lunge. Vor eineinhalb Jahren starb sein jüngerer Sohn, Heinz*, an einem Pankreas-Karzinom.

Wie ist es, der Letzte der Familie zu sein? «Traurig», sagt er und zuckt mit den Schultern. Nicht nur seine Verwandten, sondern auch seine Freunde sind alle gestorben. Er halte sich an den schönen Erinnerungen an ein langes und erfolgreiches Leben fest. Kürzlich sei zum Beispiel die Erinnerung an den noch kleinen Heinz beim Wandern aufgetaucht. Mit einem Kälberstrick gesichert springt der 5-jährige Bub beim Wildkirchli vor seinem Vater den Wanderweg hinunter. Später wird der Journalist selbst als passionierter Bergsteiger etliche Viertausender erklimmen. Die Lust am Wandern hätten wohl sie als Eltern initiiert, sagt Buchli

Der Vollwaise

Franz Buchli erzählt sein Leben von Anfang an und muss demzufolge bei seiner Kindheit und Jugend beginnen, die «nicht in allen Teilen erfreulich» gewesen sei. Franz’ Eltern starben beide, als er ungefähr drei Jahre alt war. Die Mutter an einer Lungenentzündung, der Vater in einem Motorradunfall. Die Obhut über Franz und seinen Bruder übernahm je ein Onkel.

Der Onkel, bei dem Franz aufwuchs, sei zwar lieb gewesen, dessen Frau hingegen, die in der gleichen Zeit ihr zweites eigenes Kind gebar, habe ihn als kostenlose Arbeitskraft ausgenützt. Er erzählt von 24 Johannisbeersträuchern, von denen er Beeren ablesen, von Birnbäumen, deren Früchte er ernten musste. Er erzählt, wie ihn die Tante gedemütigt habe, als sie nach dem Kauf eines neuen Wintermantels, das Geld dafür gleich beim Amtsvormund einkassierte, vor den Augen des Kindes. Weil er so viel zu Hause helfen musste, hatte er auch keine Zeit mit den anderen Jungs Fussball zu spielen und wurde zum Aussenseiter.

Der Soldat

Zwischen Lehrzeit und Studium fiel für Franz Buchli die Rekrutenschule. Kurz nach der RS hatte er ein besonderes Abenteuer zu bestehen: Er wurde 1944 bei der zweiten Teilmobilmachung eingezogen. Eigentlich war der Krieg vorbei, die deutsche Armee besiegt. Die Schweiz fürchtete jedoch, dass deren Rückzug über unser Land erfolgen würde. Soldat Buchli, 20 Jahre alt, erhielt den Befehl, mit Proviant für drei Tage und 48 Schuss Munition einzurücken, «plus eine Patrone im Lauf».

Er erinnert sich gut, wie er morgens um 5.30 Uhr von Winterthur nach Zürich fuhr und dort eine Flut schlammgrüner Helme sah. Weiter ging es nach Zug, wo sie in Fünfer-Gruppen abgeholt und «bei einem Zahnarzt im Keller» versteckt wurden. «Dies alles lief unter höchster Bereitschaft und Geheimhaltung. Niemand wusste, wohin die Reise geht.» Um Mitternacht dann wurden die Soldaten von Zug in den Kanton Solothurn verlegt, weiter ging es zu Fuss, bis sie ein altes Schulhäuschen erreichten. Dort sollten sie bis auf weiteres bleiben und im Stroh schlafen, das voller Würmer war. Buchli schüttelt sich und lacht. «Unglaublich, an welche Details ich mich noch erinnere.»

Kurz darauf wurde Alarm geschlagen. Das ganze Regiment musste Richtung Grenze vorrücken, marschierte nachts durch den Solothurner Jura. «Am Strassenrand standen Einwohner und schenkten uns Tee und Kaffee aus.» Schliesslich erreichten die Soldaten die Grenze, dort war alles «in Kampfbereitschaft» mit Maschinengewehr- und Panzerstellungen sowie Munitionslagern. «Wir mussten unsere Erkennungsmarke, die wir Totenschein nannten, stets um den Hals tragen.» Drei Monate blieben Buchli und sein Regiment im Solothurner Jura. Zu Gefechten kam es nie. Aus weiter fernen waren Artilleriefeuer zu sehen, erinnert er sich. Die Bilder in seinem Kopf sind noch sehr lebendig.

Der Ehemann

Glücklicherweise hatte Franz Buchli beim Erreichen seiner Volljährigkeit eine Versicherungssumme von 18‘000 Franken erhalten, die noch vom Verkehrsunfall seines Vaters stammte. Mit diesem Geld finanzierte sich der gelernte Maschinenzeichner ein Studium am Technikum in Winterthur. Er hätte zwar Anrecht auf Stipendien gehabt, «ich war aber zu stolz dafür», sagt er. Gleichzeitig arbeitete der fleissige Student in allen Semesterferien und schaffte es so tatsächlich, seine Studienzeit selbst zu finanzieren.

Die frisch gebackenen Ingenieure brauchten für den Diplomball eine Tanzpartnerin. Weil Franz immer noch ein schüchterner Aussenseiter war, kannte er keine Frauen in seinem Alter und durfte auf Luise*, die Schwester eines Studienfreundes, zurückgreifen. Ein Glücksgriff: «Das war ein nettes Mädchen. Es hat grad eingeschlagen.» Mit Luise wanderte er daraufhin jedes freie Wochenende im Jura. 1951 heirateten die beiden. Der erste Sohn kam 1953, der zweite 1956 zur Welt.

Franz Buchli hatte bereits seine Lehrzeit als Maschinenzeichner in einem Planungsbüro für Fabrikeinrichtungen verbracht. Diese Aufgabe fiel daraufhin auch dem studierten Maschinen-Ingenieur zu: Für namhafte Firmen wie General Motors betreute Buchli Montagelinien. Für die Migros war er bei der Planung und beim Innenausbau mehrerer neuer Backwaren-Betriebe in der ganzen Schweiz zuständig. Der damalige Industrie-Boss der Migros und Schwager des Gründers Gottlieb Duttweiler vertraute dem Ingenieur blind. «Er sagte jeweils nur: Machen Sie es!» Für gewisse Vorhaben hatte Buchli so wenig Zeit zur Verfügung, dass er praktisch Tag und Nacht daran arbeiten musste. «Das war des Guten zu viel. Die Familie sah mich kaum noch.»

Der Maschinen-Ingenieur

Auf diese intensive Berufszeit folgen ein paar «schöne Jahre in Wädenswil». Buchli arbeitete damals für den Lebensmittel-Zutaten-Hersteller Blattmann. Die Buben waren zwischen sechs und acht Jahren alte. «In dieser Zeit konnte ich die Familie geniessen.»

Noch vor dem Wechsel zu Blattmann hatte Franz Buchli eine spezielle Anfrage bekommen. Er sollte in Urugay mithelfen, eine Fabrik für Backwaren aufzubauen. Der junge Ingenieur zeichnete die Pläne und verwies den Auftraggeber an die Hersteller für die grossen Geräte. Die kleinen Geräte besorgte er selbst. «Ich investierte mein ganzes Vermögen.» Rückblickend bewundert er seinen eigenen Mut und seine Risikobereitschaft. Das Schiff, das die Maschinen aus der Schweiz transportierte, lief gerade noch rechtzeitig in den Hafen von Montevideo ein, bevor die Zölle das Vorhaben blockiert hätten.

Der Bau wurde rechtzeitig fertig, obwohl der Chef der Baustelle eines Tages alle Arbeiter abzog, weil auf seinem Weinberg die Traubenernte anstand. Buchli lacht. Damals habe Uruguay, die «Schweiz Südamerikas», als Land der unbegrenzten Möglichkeiten gegolten. Als junger Ingenieur mit noch kleinen Kindern habe er sich jedoch das Auswandern nicht vorstellen können. Er sei froh gewesen, sein Erspartes zurückzuerhalten sowie ein Honorar und ein Gewinn. Davon leistete sich die junge Familie «endlich mal gute Möbel». Die damals gekaufte Kommode steht jedenfalls heute noch, mehr als 60 Jahre später, in Buchlis Maisonette-Wohnung.

Nachher arbeitete der Ingenieur bei Coop, wo er für die Zentralisierung von über hundert Kleinbäckereien zuständig war. Sie sollten durch zwanzig Grossbäckereien ersetzt werden. Dieses Vorhaben stiess bei den einzelnen Genossenschaften, bei Gewerkschaften auf heftigen Widerstand. Auch keine einfache Zeit für Buchli. Glücklicherweise erlöste ihn in dieser Phase ein Anruf aus der Migros-Bäckerei Jowa.

Die letzten zwölf Jahre schliesslich ging er zurück zur Migros, wo er wie alle Kader-Angestellten mit 62 Jahren pensioniert wurde. Er ist also seit 36 Jahren pensioniert. Wie lange das her ist, wird einem bewusst, als er sagt, dass damals die Computer noch nicht wirklich Einzug gehalten hätten in die Arbeitswelt.

Der Vater

Buchli erzählt strukturiert. Jetzt folgt das Kapitel «Familie». Sein älterer Sohn machte eine kaufmännische Lehre und geriet 1968 in die Zürcher Jugendunruhen und rutschte in der Folge in die Drogen- und Alkoholsucht ab. Der jüngere Sohn – «er war sehr intelligent» – besuchte das Gymnasium, schrammte an den Drogen vorbei und studierte in Zürich und Berlin Germanistik. Danach arbeitete er als Journalist, zuerst bei einer Zeitung, später beim Radio in einer leitenden Funktion. Auf einem Bild, das hinter Franz Buchli im Bücherregal steht, sieht man seinen Sohn am Mikrofon, einen strahlenden Mittvierziger mit Schnauz.

Dieser hatte bereits in seinen Dreissigern mit Darmkrebs zu kämpfen. Nach mehreren Operationen, einem künstlichen Darmausgang und einem Kunstfehler war er schliesslich sehr mitgenommen und musste seinen Chefposten abgeben. Er blieb beim Radio, war aber für eine andere Sendung zuständig.

Als 50-Jähriger zog sich der gleiche Sohn, nach einem Absturz in den Bergen, ein Schädel-Hirn-Trauma zu, nach drei Wochen Koma musste er sich zurück ins Leben kämpfen.

Wenn die Themen schwierig oder traurig werden, wird Franz Buchlis Stimme beim Erzählen leiser. Er sagt: «Vieles in meinem Leben war schwierig, die Krebsjahre der Söhne etwa oder die Krebsjahre der Frau.»

Der Selbstständige

Nach zwei Stunden Gespräch mit einem quicklebendigen und geistig voll wachen Menschen, hat man trotzdem nicht das Gefühl, dass dieser Trübsal bläst. Abgesehen davon, dass der Seh- und Hörsinn allmählich nachlassen – der ehemalige Ingenieur behilft sich mit Hörapparaten und einem Vergrösserungsgerät –, leidet er an Arthrose im Knie. «Sonst kann ich nicht klagen», sagt er. Im Grunde genommen sei er glücklich, noch selbständig zu sein. Er kümmert sich selbst um den Haushalt, putzt und kocht. Und freitags fährt er auf den Gemüsemarkt und kauft für sich ein. «Das ist mein Wochenerlebnis», sagt er und seine hellblauen Augen strahlen. Er macht auch noch täglich einen Spaziergang, auch wenn sich die Runde heute auf eine Stunde beschränke.

Kurz nachdem sein jüngerer Sohn gestorben und Franz Buchli allein war, begann er sich Gedanken über sein eigenes Lebensende zu machen. Er konsultierte seine Hausärztin, um mit ihr eine Patientenverfügung zu erstellen. Ihm sind seine Wünsche ganz klar. «Ich möchte für den Fall meiner Pflegebedürftigkeit zu Hause bleiben, gepflegt von der Spitex und Palliaviva, und mittels Sterbefasten, des freiwilligen Verzichts auf Nahrung und Flüssigkeit, meinen Tod vorzeitig herbeiführen.» Auf keinen Fall wolle er in ein Pflegeheim eintreten und er verzichte ebenfalls auf jegliche Lebensverlängerung.

Wie lange will er denn noch leben? Er lacht. «Ich habe jedenfalls nicht den Ehrgeiz, hundert Jahre alt zu werden.» Da er sich aber gerade ein neues Tonhalle-Abo gekauft habe, warte er noch ein bisschen mit Sterben. Das Abonnement dauert bis Sommer 2022. Eine gute Freundin seines Sohnes habe ihn nach dessen Tod kontaktiert. Seither seien sie in Kontakt. Sie komme oft vorbei und koche für ihn. Mit ihr besucht er auch die Konzerte in der renovierten Tonhalle. Ihr Name steht übrigens auch am einen oder anderen Möbelstück. Ganz allein ist Franz Buchli also nicht.

* Namen geändert

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