Letzter Wunsch: lesen
24.02.22
Palliativ-Patient Karl W. war überzeugt: «Zum Lesen gehört auch der Geruch eines Buches und auch, seine Seiten anzufassen.» (Bild: monticiello/Adobe Stock)
Es ist eine kleine Geschichte, die schön zeigt, was Palliative Care bewirken kann. Karl W. (82) war sterbenskrank, hatte aber den grossen Wunsch, wieder lesen zu können. Denn Lesen bedeutete für ihn Lebensqualität.
Der graue Star trübte Karl W., der an einer Lungenfibrose litt, das Augenlicht derart, dass er weder Zeitung noch Bücher lesen konnte. Wegen der Pandemie musste die geplante Operation mehrmals verschoben werden.
Seine Frau und seine Tochter sitzen zehn Monate nach seinem Tod im grossen Wohnzimmer. Die Witwe serviert Kaffee. Sie erinnern sich: Im August 2020 verschlechterte sich sein Zustand, so dass er in die Palliativstation des nahen Regionalspitals eintreten musste. Als er sich stabilisiert hatte, äusserte er den Wunsch, die Augen-OP nachzuholen. Im Spital hiess es nach Abklärungen aber, eine solche käme wegen der Grunderkrankung nicht in Frage.
Der Grund: Karl W. war permanent auf Sauerstoff angewiesen und litt unter lageabhängigen Atemnot- und Hustenattacken. Flaches Liegen auf dem Rücken war schwierig, dies führte augenblicklich zu Atemnot und Husten. Ein Patient, dessen Linse ersetzt wird, um den grauen Star zu entfernen, sollte aber ruhig und möglichst flach liegen.
Frau Häberli war die Richtige für ihn. Sie wollte wissen, was er sich wünscht und was ihn umtreibt, und sie hörte ihm gut zu.» Tochter von Karl W.
Der Patient wollte nach Hause. Das Spital bot Palliaviva zur Unterstützung auf. Ausserdem übernahm eine Privatspitex die tägliche Grundpflege des bettlägerigen Patienten. Er verbrachte die Tage in einem Pflegebett im Wohnzimmer, fast genau am Ort, wo Mutter und Tochter jetzt Kaffee trinken. Palliaviva-Mitarbeiterin Eveline Häberli kam Mitte September 2020 zum Erstgespräch vorbei. Sie habe sofort eine gute Verbindung zu ihrem Vater gehabt, erzählt die Tochter. «Sie war die Richtige für ihn. Sie wollte wissen, was er sich wünscht und was ihn umtreibt, und sie hörte ihm gut zu.» Er äusserte wiederholt den Wunsch, wieder lesen zu können.
Der Technikum-Absolvent hatte ursprünglich bei Bührle-Contraves gearbeitet und wechselte noch mit 56 Jahren in ein Kieswerk als Betriebsleiter, wo er bis zu seiner Pensionierung blieb. Als ihn der graue Star noch nicht störte, las der leidenschaftliche Jäger Fachbücher, Zeitung, Literatur, manchmal drei bis vier Werke gleichzeitig. «Ich war als Kind eher ein Lesemuffel und verstand nie, wie er mehrere Bücher gleichzeitig lesen konnte», erzählt seine Tochter lachend.
Als die Palliativ-Pflegefachfrau meinte, er könne doch auf Hörbücher umsteigen, sagte er: Diese könnten das Erlebnis, ein Buch in den Händen zu halten, nicht ersetzen Dazu gehöre auch der Duft des Buches und das Anfassen seiner Seiten.
Was haben Sie zu verlieren?» Eveline Häberli, Palliativ-Pflegefachfrau
Diese Aussage überzeugte Eveline Häberli, und sie machte Nägel mit Köpfen. Sie erkundigte sich erstens bei seinem Augenarzt, ob er den Palliativpatienten operieren würde und was dazu nötig sei. Als die ehemalige Anästhesie-Pflegefachfrau hörte, dass der Patient den Oberkörper mindestens in einem Dreissig-Grad-Winkel hochlagern müsste, klärte sie dies zweitens mit ihm und seiner Familie ab. Dort hiess es: «Doch, dreissig Grad sollten möglich sein.» Sie sprach drittens noch einmal mit dem Patienten, der Respekt vor der ambulanten Operation äusserte. Obwohl sonst einigermassen stabil, war der 82-jährige permanent auf zusätzlichen Sauerstoff angewiesen. Die Pflegefachfrau fragte ihn darauf direkt, was er zu verlieren habe. Nichts meinte er. Sterben werde er sowieso in absehbarer Zeit.
Zu gewinnen hatte der Mann hingegen viel. Am 26. September 2020 holte ihn ein Krankentransport ab und brachte ihn zur Augenarztpraxis. Er wurde von seiner Frau und seinem Sohn begleitet. Die Palliativpflegefachfrau hatte ausserdem abgeklärt, dass er das blutverdünnende Medikament nicht absetzen und genügend Sauerstoff mitnehmen konnte. Ausserdem hatte der Patient auch seine Patientenverfügung im Gepäck.
Zwar waren der Transport und die Operation eine Strapaze gewesen für meinen Mann. Aber die Freude, dass er danach wieder Zeitung und Bücher lesen konnte, überwog.» Ehefrau von Karl W.
Der Augenarzt hatte ihn als letzten Patienten eingeplant. Die Operation des ersten Auges verlief problemlos. Das zweite Auge konnte der Spezialist aber nicht mehr operieren, weil der Patient zu husten begann. Mit verbundenen Augen wurde er wieder nach Hause transportiert. Der Augenarzt entfernte am nächsten Tag bei einem Hausbesuch den Verband.
Die Witwe erzählt: «Zwar waren der Transport und die Operation eine Strapaze gewesen für meinen Mann. Aber die Freude, dass er danach wieder Zeitung und Bücher lesen und sogar am Computer arbeiten konnte, überwog.» Sie lächelt und blickt Richtung Urne in der Zimmerecke, die sie mit Eichenzweigen dekoriert hat. «Frau Häberli hat genau im richtigen Moment alle Hebel in Bewegung gesetzt», sagt auch seine Tochter. Die Operation auch nur eines Auges habe ihrem Vater sehr viel Lebensqualität zurückgebracht.
Noch knapp vier Monate lebte Karl W. nach der Augen-Operation und äusserte immer wieder Zufriedenheit und Freude über die wiedererlangte Sehkraft. Er starb am 20. Januar des letzten Jahres friedlich zu Hause, wie er dies sich gewünscht hatte. Im Kreis seiner Familie, die ihn liebevoll umsorgte. Unterstützt wurden sie auch von Palliaviva-Pflegefachfrau Eveline Häberli.