«Mein Mann darf zu Hause sterben» – ein Buch aus dem Leben
20.07.23
Helga Schubert ist praktisch 24 Stunden für ihren Mann da. Ihre Erfahrungen hat sie in ihren Roman einfliessen lassen.
Die deutsche Schriftstellerin Helga Schubert schreibt über den Alltag mit ihrem schwer kranken Mann. Ihr neuestes literarisches Werk mit dem Titel «Der heutige Tag» liest sich über weite Strecken als Liebesgeschichte. Die Autorin schweigt aber auch nicht über die kräftezehrende Pflege zu Hause.
«Derden» nennt Helga Schubert im Buch ihren Mann, einen emeritierten Psychologieprofessor. «Derden» ist eine Abkürzung für «Der, den ich liebe». Die Beziehung zwischen der Autorin und ihrem Lebenspartner hat sich in den letzten Jahren drastisch verändert. Sie scheint aber nicht weniger tief, die Liebe nicht weniger stark geworden zu sein.
Helga Schubert ist 83 Jahre alt, ihr Mann 96. Die beiden haben sich jung kennengelernt, sie sind seit 47 Jahren verheiratet. Sie wohnen an einem abgelegenen Ort im ehemaligen Osten Deutschlands. Helga Schubert verwebt in ihrem Buch ihr gemeinsames Leben zu einem lesenswerten Stück Literatur.
Am Telefon bestätigt sie, ihr Buch besitze viele dokumentarische Facetten. Ihr Mann sei schwer herz- und nierenkrank, habe einen Prostatatumor und sei zudem dement; er brauche Pflege rund um die Uhr. Diese leistet Helga Schubert zusammen mit einem «normalen Pflegedienst», wie sie erklärt – also keiner spezialisierten Spitex wie Palliaviva. Sie selber ist praktisch 24 Stunden am Tag für ihren Mann da.
In ihrem Buch schildert sie eindrücklich, was die jahrelange Pflege eines schwer kranken Menschen zu Hause für sie bedeutet. Sie erzählt Szenen mitten aus dem Alltag, in dem es jedoch auch leichte Momente gibt. Viele sind Augenblicke der Zuwendung zwischen den Ehepartnern. Im Gespräch ist Helga Schubert bereit, diese Reflexionen zu vertiefen.
Helga Schubert, wie geht es Ihnen und Ihrem Mann heute?
Der körperliche Zustand meines Mannes ist besorgniserregend. Er nimmt 25 Tabletten täglich, sitzt im Rollstuhl, mit dem er sich aber selber bewegen kann. Wenn er müde ist, liegt er in seinem Pflegebett. Ich bin 24 Stunden in seiner Nähe. Nur selten fahre ich für Lesungen weg und habe nun zum Glück eine gute Betreuung für ihn gefunden. Aber das ist teuer. Seelisch geht es meinem Mann gut – und mir auch.
Woran stellen Sie das fest?
Wir sind ständig im Austausch, ich investiere viel Energie, um die Kommunikation zwischen uns aufrechtzuerhalten. Mein Mann hört und versteht sehr schlecht. Also versuche ich, Dinge immer wieder mit verschiedenen Worten auszudrücken, bis er verstanden hat, was ich meine. Er sagt mir selber immer wieder, dass es ihm seelisch gut gehe. Manchmal äussert er Dinge wie: «Ich bin im Paradies. Und der liebe Gott hat mir einen Engel dazugegeben.» Er zeigt mir deutlich seine Zuneigung und Dankbarkeit. Das ist schön.
Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass er sehr schwer krank ist …
Richtig. Erst kürzlich hatte er nachts starke Schmerzen, die von seinem Prostatatumor herrühren. Er hat einen Dauerkatheter, der durch die Niereninsuffizienz und wiederkehrende Blasenentzündungen manchmal verstopft. Dadurch gab es vor kurzem einen sehr schmerzhaften Harnrückstau. Das war das erste Mal, dass wir in die Notfallstation im Krankenhaus fuhren. Der Hausarzt, der uns sehr unterstützt, hatte das Krankenhaus vorbereitet: Es war klar, dass mein Mann nach der Behandlung wieder zu mir nach Hause zurückkehren würde.
Die spezialisierten Pflegefachpersonen hatten mehr Zeit.»
Sie haben einen intensiven Kontakt mit dem Hausarzt. Wer unterstützt Sie sonst noch?
Wir haben Glück, denn unser Hausarzt macht auch Hausbesuche. Und der Pflegedienst kommt immer morgens und abends für zwanzig beziehungsweise zehn Minuten. Das ist ein normaler Pflegedienst, keine spezialisierte Palliativpflege. Eine dieser Pflegefachpersonen hat mir erzählt, sie hätten in der Region insgesamt 181 ambulante Patientinnen und Patienten zu betreuen. Mein Mann sei der Einzige, der mit einer so schweren Erkrankung zu Hause sei. Die Norm hier wäre, dass man im Heim leben würde. Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen Angst haben vor der Pflege zu Hause.
Gibt es in Ihrer Gegend überhaupt einen spezialisierten Palliativ-Pflegedienst für zu Hause?
Ja, den gibt es, und wir haben ihn auch ein halbes Jahr in Anspruch genommen. Das war 2018, als es meinem Mann noch schlechter ging als jetzt und er Morphium brauchte. Der hauptsächliche Unterschied zwischen damals und heute ist für mich, dass die spezialisierten Pflegefachpersonen mehr Zeit hatten. Sie hatten Zeit, mit meinem Mann und vor allem auch mit mir zu sprechen. Sie haben mich getröstet und mir Mut gemacht.
Welche Aufgaben übernehmen Sie heute in der Pflege?
Der Katheter in die Blase muss zweimal täglich gespült werden. Das mache ich selber; ich habe mich von den Pflegefachpersonen anleiten lassen. Ausserdem schaue ich 24 Stunden zu meinem Mann. Ich habe ein Babyphon, durch das ich mit einem Ohr immer mit ihm verbunden bleibe; auch nachts, wenn ich schreibe. Wenn er mich braucht, bin ich rasch zur Stelle.
Im Buch erzählen Sie auch von Momenten der Verzweiflung. Von ihrem schlechten Gewissen, dem «inneren Verbot, über die positiven Seiten seines Todes nachzudenken». Wie ist das heute?
Ich kann sagen, dass dieses schlechte Gewissen vorbei ist. Es ist einem wirklichen Akzeptieren gewichen. Mein Mann ist 96 Jahre alt, und wenn ich zurückblicke, hatte er ein gutes Leben. Wir haben auch heute ein glückliches Zusammenleben. Manchmal denke ich, wenn er jetzt sterben würde, wäre dies das Ende eines reichen, vollen Lebens. Ich bin heute nicht mehr verzweifelt über die Situation, in der wir uns befinden.
Daheim zu sein, gibt ihm und mir ein besseres Gefühl.»
Was hat Ihnen beim Akzeptieren geholfen?
Die Gewissheit, dass ich das Richtige tue. Mir hilft es, zu denken, dass ich in derselben Situation sein könnte wie er. Er hat es sich nicht ausgesucht, so krank zu werden. Der Wunsch meines Mannes ist es, zu Hause zu sein, und ich sage mir: Mein Mann darf zu Hause sterben. Für mich ist es einfacher, ihn hier zu pflegen, als ihn in ein Heim zu geben, wo ich ihn nur während der Besuchszeiten sehen dürfte. Daheim zu sein, gibt ihm und mir ein besseres Gefühl.
Sie schreiben im Buch auch über Ihre Angst, dass Ihnen etwas zustossen würde und Sie nicht mehr für Ihren Mann da sein könnten. Wie sieht es damit aus?
Auch das ist vorbei, genauso wie meine Trauer über das bevorstehende Lebensende und die nahende Trennung. Ich lerne als 83-jährige Frau jeden Tag dazu. Sehen Sie: Auch mein Leben war voll und reich. Mein Mann und ich haben besprochen, dass wir gemeinsam in ein Heim gehen, wenn mir etwas geschehen würde. Die Anmeldungen sind gemacht. Aber über all das darf ich gar nicht zu sehr nachdenken, denn ich will meinen Lebensmut behalten. Und der Verlag erwartet von mir ein weiteres Buch.
Helga Schubert: Der heutige Tag – Ein Stundenbuch der Liebe. dtv-Verlag, www.dtv.de. 265 Seiten. ISBN 978-3-423-28319-9