Netzwerkerin für die Palliative Care
01.12.21
Christina Hausherr geht Ende Jahr in Pension. Die Leiterin des Spitex-Zentrums Obfelden hat am Palliative-Care-Netzwerk im Knonaueramt massgeblich mitgestrickt.
Sage und schreibe 45 Jahre hat Christina Hausherr in der Pflege gearbeitet. Dass die Langeweile sie dabei nie gepackt hat, liegt an den vielen Projekten, die sie in all diesen Jahren umgesetzt hat. Die bestmögliche Versorgung von Menschen am Lebensende war ihr schon immer ein Anliegen gewesen. Bei einem Kaffee im Spitexzentrum Obfelden lässt sie ihre Karriere Revue passieren.
Zum ersten Mal mit Palliative Care in Kontakt kam sie im Jahr 2000. Sie war Oberschwester im Aargauer Pflegeheim Reusspark und dort für 150 Mitarbeitende verantwortlich. Durch das Hospiz im Aargau, das die Räumlichkeiten des Reussparks benutzte, lernte sie die Palliative-Care-Pionierin Luise Thut kennen und beschloss, dass auch ihr Pflegezentrum Palliativbetten benötigt. In einer Abteilung wurde ein abgetrennter Bereich mit fünf bis sieben Plätzen geschaffen. «Die Palliativ-Betten im Reusspark sind heute noch in Betrieb», sagt sie zufrieden. «Das Ganze ist eine Erfolgsgeschichte.»
Noch einmal am Lachsbrötchen schnuppern
Christina Hausherr erzählt von letzten Wünschen, die sie Patientinnen und Patienten erfüllen konnten. Ein Patient konnte noch fischen gehen, begleitet vom Chef der Wäscherei, ebenfalls Hobby-Fischer. Einem anderen ermöglichten sie, noch einmal seinen Schäferhund zu sehen – trotz Tierverbot im Pflegeheim. Hausherr erzählt, wie der Hund einen Satz aufs Bett nahm und seinem Herrchen das Gesicht ableckte. Der junge Mann sei kurz darauf gestorben. Es gab auch eine Stationskatze. Diese habe jeweils die Nähe von Menschen gesucht, die bald starben.
Christina Hausherr holte für Weiterbildungen immer wieder Palliative-Care-Koryphäen ins Haus, die alle Mitarbeitenden schulten. «Dazu gehörte auch die Küchenmannschaft.» Der Küchenchef sei selbst einmal murrend einkaufen gefahren, um einem Palliativpatienten die Wunschkost von Lachsbrötchen und Champagner zu erfüllen. Der Sterbende konnte das Ganze zwar nicht mehr essen, aber allein die Geste, dass man diesen Aufwand für ihn betrieb, habe ihn zu Tränen gerührt. «In diesem Moment war auch dem Küchenchef klar, worum es eigentlich geht.»
2009 übernahm Christina Hausherr die Zentrumsleitung der Spitex Obfelden. Wieder eroberte sie Neuland. «Auch hier trieb mich der Wunsch an, Menschen dabei zu unterstützen die letzte Lebensphase zu Hause bestmöglich zu gestalten.» 2015 fragte Onko Plus, wie Palliaviva damals noch hiess, die Spitex Obfelden an, um einen regionalen Stützpunkt im Knonaueramt aufzubauen. Dieser Plan stiess bei Christina Hausherr auf offene Türen. Dennoch sei sie kritisch gewesen, erzählt sie und offenbart damit wohl eine ihrer Eigenschaften als gewissenhafte Spitex-Leiterin. «Ich wollte wissen, wo die Schnittpunkte unserer Zusammenarbeit liegen, und wer wofür zuständig ist.
Diese Zusammenarbeit ist eine Bereicherung für uns, für Palliaviva, aber vor allem für unsere Kundinnen und Kunden.» Christina Hausherr, Leiterin Spitex-Zentrum Obfelden
Hausherr erklärt die Kooperation mit einfachen Worten: Palliaviva leistet spezialisierte Behandlungspflege, hat Notfallpläne, Medikamente und Material schnell zur Hand und führt psychologisch herausfordernde Gespräche mit den Betroffenen, wozu Patientinnen, Patienten und Angehörige gehören. Die Spitex ist für die Fallführung, die tägliche Grund- und Behandlungspflege und allenfalls fürs Medikamenten-Management zuständig.
Sie habe zuerst nicht begriffen, weshalb das Palliative-Care-Team nur die Behandlungspflege übernehme und «nicht gleich alles». Mit der Zeit habe sie die Vorteile der Arbeitsteilung gesehen und viel von Palliaviva profitiert und gelernt, über Zugänge, die man legen könne, um Medikamente zu spritzen, über Schmerz-Pumpen, über kommunikative Skills. Palliaviva sei im Gegenzug froh, dass die Spitex täglich einen Patienten sehe und Veränderungen melden könne. «Diese Zusammenarbeit ist eine Bereicherung für uns, für Palliaviva, aber vor allem für unsere Kundinnen und Kunden.»
Durch ihre Offenheit lernte Christina Hausherr die Vorteile der Zusammenarbeit mit Palliaviva und Olaf Schulz schätzen, der in der Pionierphase alleine im Knonaueramt unterwegs war. Heute ist die Zahl der betreuten Patientinnen und Patienten so stark gewachsen, dass auch eine zweite Pflegende, Livia De Toffol, ausschliesslich Menschen im Knonaueramt und im unteren Limmattal begleitet. Die Palliaviva-Pflegenden seien stets offen und gesprächsbereit gewesen und hätten nicht nur die Spitex, sondern auch die Hausärztinnen und Hausärzte in der Region vom ambulanten Palliative-Care-Netzwerk überzeugen können.
Meist führen Spitex und Palliaviva separate Erstgespräche mit den Patientinnen und Patienten. Manchmal, wenn man um eine fortgeschrittene palliative Situation wisse, gehe man auch zusammen beim Patienten und seiner Familie vorbei. Christina Hausherr sagt: «Meine Mitarbeitenden profitieren davon, wie offen die Palliativ-Pflegenden über Sterben und Tod sprechen. Die Zeit ist begrenzt, es ist wichtig, dass man nach Werten und Wünschen fragt.» Wollten Menschen partout nicht übers Sterben sprechen, müsse man das aber auch akzeptieren und aushalten. Wichtig sei einfach, dass man allen, dem Patienten und den Angehörigen, die Gesprächs-Möglichkeit offeriere.
Kurze Wege, grosse Nähe
Viele Menschen wollten so lange wie möglich zu Hause bleiben, und auch dort sterben, weiss Hausherr. Andere würden ganz zum Schluss hingegen doch noch ins Spital oder in ein Pflegeheim eintreten, vermutlich um die Angehörigen zu schonen. In Pandemiezeiten seien viel mehr Menschen zu Hause verstorben als sonst
Christina Hausherr initiierte das Palliative-Care-Netzwerk im Knonaueramt. Dazu gehören je eine Vertreterin von einem Spitex-Zntrum im Knonaueramt, die Seelsorge, ein Hausarzt, die Freiwilligen-Organisation Wabe, die Palliativstation des Spitals Affoltern am Albis («Villa» genannt, weil sie sich in der ehemaligen Arztvilla, im Haus Sonnenberg befindet) und natürlich Olaf Schulz oder Livia De Toffol von Palliaviva. Das heisst, die Fachpersonen, die Menschen am Lebensende begleiten, kennen sich. Durch das gewachsene Vertrauen hilft man sich auch mal aus. «Wir können jederzeit in der Villa oder bei Palliaviva um Rat fragen und werden auch unkompliziert mit Material unterstützt», sagt die Spitex-Leiterin. Das wiederum verbessert die gesamte Versorgungsqualität in der Region.
Unter Christina Hausherr entstanden verschiedene Schriften, die allen Pflegenden im Knonaueramt noch länger hilfreich sein werden: ein ausführliches Handbuch über Palliative Care, das bald digitalisiert werden soll, ein Rahmenkonzept, das alles in knappen sieben Seiten zusammenfasst und eine Broschüre für Angehörige, die «Die allerletzte Zeit» heisst. Hausherr erklärt: Angehörige, die einen Menschen im Sterben begleiten, wüssten meist nicht, was auf sie zukommt, weshalb er nicht mehr essen möge oder mit der Zeit keine Berührungen mehr ertrage.
Es machte mich zufrieden , dass ich bei meinem Vater umsetzen konnte, was ich jahrelang predigte.» Christina Hausherr, Palliativ-Pionierin
Vor drei Jahren stand Hausherr selbst vor der grossen Herausforderung, ihren Vater im Sterben zu begleiten. Sie holte sich Rückendeckung bei Olaf Schulz und in der «Villa». Sie und ihre Schwester sagten Ferien ab und nahmen sich frei. Der Vater lag in seinen letzten Tagen meist auf dem Sofa. Was ihm noch wichtig sei, fragten sie ihn, wen er noch sehen wolle. Sie hätten noch mit ihm «geschnäpselt», seine Beerdigung geplant, Quittengelee und seine Lieblingsgerichte gekocht – nur für den Duft, essen konnte er nicht mehr. Die letzten Nächte verbrachte Christina Hausherr in ihrem Kinderzimmer und spritzte ihrem Vater alle drei Stunden Morphin. Er starb ruhig in der Nacht, ihre Mutter schlief daneben weiter. Die Tochter weckte sie nicht.
Christina Hausherr sagt, sie habe Respekt davor gehabt, Fachfrau und Tochter gleichzeitig zu sein. Es habe sie schliesslich zufrieden gemacht, «dass ich bei meinem Vater umsetzen konnte, was ich immer predigte». Die zwei Jahre, in denen er an Krebs gelitten habe, seien fast vergessen. «Die zehn Tage jedoch, in den wir ihn intensiv begleiteten, waren so schön, so dicht an Erinnerungen, dass sie mich auch durch die Trauer getragen haben.»
Patientenverfügung und Grab geregelt
Christina Hausherr feiert im Dezember ihren 64. Geburtstag und geht Ende Jahr in Pension. Die Verantwortung für den Fachbereich Palliative Care werden ihre bisherige Stellvertreterin Veronika Nussbaumer und Patricia Meier, die stellvertretende Zentrumsleiterin von Bonstetten, übernehmen.
Wird sich Christina Hausherr nun auf die faule Haut legen? Sie lacht. Sie wolle sich Zeit lassen, um zu schauen, in welche Richtung es mit ihr gehen solle. Dass sie sich, vielleicht als Freiwillige, engagieren und vermutlich weiterbilden will, ist ihr klar. Sie wolle aber auch die neue Freiheit geniessen für Abenteuer in den Bergen, auf Skis, beim Wandern. Sie will ihre Hobbys pflegen, das Mandolinenspiel im Orchester, Yoga, Nordic Walking. Zwar selber kinderlos, habe sie sechs Patenkinder und ihre Mutter, um die sie sich vermehrt kümmern möchte. Auch Freunde und Bekannte werde sie wohl weiterhin privat palliativ begleiten.
Sie freut sich, fit und gesund zu sein. Sie sei aber auch nicht blauäugig, habe Patientenverfügung, Vorsorgeauftrag und Testament gemacht. Sie habe sogar die Birke ausgesucht, unter der sie bestattet werden will. Ihre Mutter schüttelt darüber den Kopf. Sie aber habe sich bereits als 20-Jährige Gedanken übers Sterben und den Tod gemacht. «Ich bin nicht schwermütig, aber irgendwann ist es für uns alle so weit.»