Sterbefasten: Was heisst das für die Angehörigen?

07.09.23

Danke fürs Teilen.
Sterbefasten: Ein Eiswürfel auf einem Löffel. Damit lässt sich der Mund befeuchten.

Ein Eiswürfel kann gegen quälenden Durst helfen.

Über das sogenannte Sterbefasten wird in letzter Zeit häufiger und offener gesprochen. Was dabei oft vergessen geht: Angehörige kann es in eine Krise führen.

«Viele Leute haben das Gefühl, Sterbefasten sei die Light-Variante von Exit», sagt Corinne Irniger, Pflegefachfrau bei Palliaviva. «Sie denken, wenn sie nicht mehr essen und trinken, seien sie spätestens am fünften Tag tot.» Der Gedanke ans Sterbefasten sei für viele mit der Vorstellung eines sanften Dahindämmerns verbunden. «Sie wünschen sich ein leises Abtreten von dieser Welt.»

Corinne Irniger hat schon mehrere Patientinnen, die sich fürs Sterbefasten entschieden hatten, begleitet. Eine davon, eine sehr alte Frau, starb am vierten Tag. Dies allerdings nicht am Verzicht auf Essen und Trinken, sondern an ihrer Grunderkrankung. Bei den anderen hat die Palliaviva-Mitarbeiterin die Erfahrung gemacht, dass der Sterbeprozess anstrengend und herausfordernd war, wie sie sagt – und zwar für die Patientinnen wie auch für die Angehörigen. Sie fasst es mit einem Satz zusammen: «Man muss es aushalten.»

Intensiver, quälender Durst

Die Leute seien überrascht, wenn sie ihnen im Vorfeld sage, dass sich der Prozess über zwei bis drei Wochen hinziehen könne, erzählt Corinne Irniger. Problematisch sei für viele die grosse Schwäche und auch der Verlust von Selbstständigkeit, die sie nach einigen Tagen wahrnehmen. Schmerzen seien kaum ein Problem. Und auch andere Symptome wie Muskelkrämpfe könne man gut behandeln. Um ausgetrocknete Schleimhäute und den intensiven Durst, der ausgesprochen quälend sein kann, aushaltbar zu machen, sei eine regelmässige Mundpflege und Befeuchtung unabdingbar.

Das alles fordert selbstverständlich auch die, die jemanden in diesem Prozess begleiten. Was also bedeutet der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF), wie das Sterbefasten professionell genannt wird, für die Angehörigen? Diese Frage hat sich die Pflegeexpertin Fabienne Walder im Rahmen ihrer Masterarbeit in Palliative Care gestellt. Aus eigener Anschauung kennt die Pflegefachfrau zudem die Rolle der Pflegenden in Langzeitinstitutionen, die FVNF begleiten.

Genug Zeit für die Vorbereitung

Grundlage für ihre Arbeit und Ausführungen bilden die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) zum Umgang mit Sterben und Tod. Darin wird auch das FVNF aufgegriffen:

  • Der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF; «Sterbefasten») wird von manchen Patientinnen und Patienten als Möglichkeit gewählt, um den Sterbeprozess zu beschleunigen.
  • Freiwillig ist der Verzicht dann, wenn der klar geäusserte Wille einer urteilsfähigen Person vorliegt.
  • Immer braucht es einen angemessenen Raum und genügend Zeit, um die mit dem freiwilligen Verzicht verbundenen Vorstellungen zu diskutieren.

Für Fabienne Walder ist der letzte Punkt in der Praxis essenziell. «Es braucht einen antizipierenden palliativen Betreuungsplan», hält sie fest.  «Was also passiert beispielsweise, wenn der Patient, die Patientin trotz allem nach einem Glas Wasser bettelt?» Eine solche Situation kann Angehörige in grosse Gewissenskonflikte und in eine Krise führen.

Selbstverantwortung bis zum Schluss

Alle Fragen, die mit «Was, wenn …» beginnen, müssten vorgängig offen besprochen und geklärt werden, sagt die Pflegeexpertin. Denn auch während des FVNF, der ein Prozess sei, könne es immer wieder zu unerwarteten Situationen und Planänderungen kommen. Wichtig ist in den Augen von Fabienne Walder: «Das Hintergrundwissen darüber, was bei einem FVNF passieren kann, muss bei allen Beteiligten vorhanden sein. Dafür muss man sich im Vorfeld Zeit nehmen.»

Auf die Frage mit dem Glas Wasser geben die SAMW-Richtlinien eine Antwort:

  • Auch wenn die Patientin in ihrer Patientenverfügung das Gegenteil festgehalten hat, dürfen Essen und Trinken nicht vorenthalten werden, wenn sie danach verlangt.

Praktisch bedeutet dies laut Fabienne Walder, dass die Begleitenden der Patientin oder dem Patienten ein Glas Wasser hinstellen und sie oder er dann selber eine Entscheidung trifft.

Konkret empfiehlt man Betroffenen bei einem FVNF, nicht mehr als 50 Milliliter Wasser pro Tag zu sich zu nehmen, um den Sterbeprozess nicht zu verlängern. Fabienne Walder macht darauf aufmerksam, dass es schwierig sein kann, sich auf 50 Millimeter Flüssigkeit zu beschränken. «Allein schon für die Einnahme einer Tablette braucht es ungefähr 10 Milliliter. Auch das mehrmalige, intensive Lutschen von Eiswürfeln gegen das Durstgefühl kann schon fast zu viel sein.»

Die Angehörigen übernehmen laut Fabienne Walder nach einer guten Absprache eine Begleit- und Kontrollfunktion. Die Voraussetzung dafür sei, dass sie sich sicher und legitimiert fühlen, den getroffenen Abmachungen entsprechend zu handeln.

Kommunikation hilft auch beim Trauern

Fabienne Walder hält fest, der Fokus müsse beim FVNF in Zukunft noch viel stärker auf die Angehörigen gerichtet sein. «Sie sind eine der wichtigsten Ressourcen. Wenn sie bereit sind, den Prozess mit den Betroffenen zu begleiten und zu gestalten, ist das ein grosser Gewinn für alle.» Ein FVNF biete zum Beispiel auch Zeit und Gelegenheit, das Leben gemeinsam Revue passieren zu lassen.

Die Palliative-Care-Spezialistin denkt dabei auch an die Zeit nach dem Tod, an die Verarbeitung durch die Angehörigen. Diese werde leichter, wenn die Patientinnen oder Patienten ihren Plan vor dem FVNF mit ihrer Familie und anderen Unterstützerinnen oder Unterstützern möglichst detailreich besprochen hätten. «Wer die Absicht der sterbewilligen Person nachvollziehen kann, entwickelt eine grössere Akzeptanz. Die Einstellung dem FVNF gegenüber ist immer von persönlichen Erfahrungen, Sorgen und Ängsten geprägt.»

Wenn der Prozess gut vorbereitet wurde, kann man Rückschau aufs Leben halten, vielleicht auch anhand von Fotos.

Emotionale Gratwanderung

In der Tat geht man allerdings davon aus, dass eine Mehrheit der Personen, die durch FVNF aus dem Leben scheiden, ihren Plan gar nicht erst kommunizieren. Fabienne Walder berichtet von Studien, wonach bis zu drei Viertel der Betroffenen einfach aufhören zu essen und zu trinken, ohne ihre Absicht zu deklarieren. Unabhängig von dieser Statistik sagt die Pflegeexpertin: «Der FVNF bleibt in jedem Fall eine emotionale Gratwanderung mit unbekannten Herausforderungen.»

Gefahren durch Pflegenotstand

Der FVNF wird nicht nur vermehrt diskutiert. Es wird auch intensiv an diesem Thema geforscht, und es gibt hierzu einen regen Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis. Eine breite wissenschaftliche Expertise zum FVNF besitzt André Fringer, Professor am Institut für Pflege an der ZHAW (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften) in Winterthur. Er sagt: «Wir erhalten immer mehr Anfragen von Langzeitinstitutionen, die mit dem Wunsch von Bewohnerinnen und Bewohnern nach FVNF konfrontiert sind und alles richtig machen wollen. Eine gewisse Verunsicherung ist mancherorts spürbar.»

Fringer sieht das sogenannte Sterbefasten als «dritten Weg» neben dem natürlichen Sterben und der Entscheidung einzelner Menschen, die Unterstützung einer Sterbehilfeorganisation in Anspruch zu nehmen. Er ortet ein Spannungsverhältnis bei manchen Palliative-Care-Pflegefachleuten, deren Ziel es eigentlich ist, die Lebensqualität der Betroffenen bis zum Schluss zu erhalten. «Nun sehen sie sich mit expliziten Sterbewünschen konfrontiert, was nicht für alle einfach zu akzeptieren ist.»

Der ZHAW-Professor steht dem Thema FVNF sachlich offen gegenüber, sieht aber die Notwendigkeit, die Entwicklung kritisch zu beobachten. Er warnt vor Missständen durch den zunehmenden Pflegenotstand, namentlich in Langzeitinstitutionen wie Heimen. «Ich sehe eine Gefahr, dass das Verhalten von Menschen mit Demenz oder Patientinnen und Patienten, die sich aus anderen Gründen nicht mehr klar äussern können, falsch eingeschätzt wird.»

Fringer erläutert, Betroffenen könnte allenfalls gegen ihren Willen unterstellt werden, sie hätten sich für den FVNF entschieden. Dies beispielsweise, weil sie wegen Zahnproblemen oder Verletzungen im Mund das Essen und Trinken verweigerten. «Differenzierte Abklärungen sind in jedem Einzelfall zwingend.» Vor Fehlinterpretationen schützen könne sich das Personal mit klaren Haltungen gegenüber dem FVNF durch Fortbildung und Expertise in spezialisierter Palliative Care. Zudem brauche es massgeschneiderte Konzepte für die Einrichtungen, um einen professionellen Umgang mit dem Thema zu gewährleisten.

Weitere Informationen zur entsprechenden Forschung an der ZHAW sind hier (Link anklicken) zu finden.

Hier spenden

Helfen Sie Menschen in ihrer letzten Lebensphase.

Nach oben
Feedback

Vielen Dank für Ihren Besuch

Erfahren Sie auch weiterhin von unseren Neuigkeiten. Jetzt Newsletter abonnieren: