Sterben und gleichzeitig leben wollen

30.05.17

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Der Ambivalenz haftet ein eher negativer Ruf an. Gleichzeitig kommen widersprüchliche Gefühle praktisch in jedem Entscheidungsprozess vor (Bild: eyeQ/fotolia.com).

Schwerkranke Menschen am Lebensende befinden sich in einer enorm bedrohlichen Situation. Zudem müssen sie häufig schwierige Entscheidungen treffen. Sie und auch ihre Angehörigen verstricken sich immer wieder in scheinbaren Widersprüchen. Für Fachpersonen gilt es, diese Ambivalenzen auszuhalten und das Potenzial daraus zu schöpfen.

Von Silke Willrodt

Entscheidungen, aber auch Meinungen, Äusserungen, Verhalten im Leben eines Menschen beruhen auf einer grossen Anzahl verschiedener Faktoren. Das ist in der letzten Lebensphase nicht anders. Allerdings stellt eine palliative Situation am Ende des Lebens eine nie da gewesene Grenzsituation dar, die noch dazu in etwas völlig Unbekanntes führt. Individuelle Werte und Bewältigungsmuster, die sich in der Vergangenheit bewährt haben und ein Leben lang gewachsen sind, tragen plötzlich nicht mehr.

Endlichkeit steht im Vordergrund

Menschen in palliativen Situationen haben häufig eine längere Leidensgeschichte mit Krankheit, Ängsten, Hoffnungen, Trauer und Verlusten hinter sich. Immer wieder erhalten sie neue Informationen über ihren Gesundheitszustand und müssen damit zu Recht kommen. Zum Teil sind palliative PatientInnen aber auch ganz plötzlich von einer schweren, nicht mehr kurativ zu behandelnden Krankheitsdiagnose betroffen und müssen sich ausnehmend schnell, aus einem oft komplett anderen Kontext heraus, sowohl mit Sterben und Tod als auch mit Symptomen und Einschränkungen auseinandersetzen. Erschwerend hinzu kommt die Gegensätzlichkeit zwischen einer Umgebung im Gesundheitssystem, die grundsätzlich auf kurative Behandlungsmethoden, auf Lebenserhaltung und Verlängerung ausgerichtet ist, und einer Diagnose, bei der die Endlichkeit stark im Vordergrund steht.

In der Arbeit mit schwerkranken Menschen am Lebensende begegnen wir in dieser ausserordentlichen, existenziell bedrohlichen Situation immer wieder scheinbaren Widersprüchen oder Ambivalenzen: einerseits vor allem bei den Betroffenen und ihren Angehörigen, anderseits stellen palliative Situationen ebenso für das Betreuungsteam immer wieder aufs Neue eine enorme und häufig von Widersprüchen begleitete Herausforderung dar. Dabei ist jede Begleitung so individuell und anders wie die jeweils betroffene Person. Es geht um Menschen, die sich in einer klaren, adäquaten Bewusstseinslage befinden, die in der Lage sind, sich zu äussern und Entscheidungen zu treffen.

Zwei gegenteilige Dinge, die gleichzeitig gelten

Der Begriff der Ambivalenz setzt sich zusammen aus lateinisch «ambo», was so viel bedeutet wie beide und «valere» = gelten, was schon aufzeigt, dass es bei der Ambivalenz um zwei Dinge geht, die beide gelten, also wichtig sind. Im Duden finden sich erklärend die Begriffe Zwiespältigkeit, Spannungszustand, Zerrissenheit. Es geht um sich widersprechende Gefühle, Meinungen oder auch Äusserungen, die gleichzeitig beziehungsweise nebeneinander da und von Bedeutung sind. Es zeigt sich, dass der Begriff Ambivalenz nicht einheitlich verwendet wird und die Übergänge zu Begriffen wie Widerspruch, Doppel- und Mehrdeutigkeit fliessend sind. Auch ist das Phänomen Ambivalenz  nicht nur bei schwer kranken Menschen anzutreffen: Im Gegenteil: Ambivalenz ist vielschichtig, zutiefst menschlich und begegnet uns in unterschiedlichen Formen und Facetten praktisch in allen Lebensbereichen.

Wir können Ambivalenz aus ganz unterschiedlichen Perspektiven und Blickwinkeln betrachten: Beginnen wir mit der Psychologie, hier mit der eigentlichen Definition des Begriffes durch Eugen Bleuler, der die Ambivalenz zunächst nur im pathologischen Sinn betrachtete. In späteren psychologischen Ausführungen wird in der Ambivalenz auch entwicklungsförderndes Potenzial entdeckt. Weitere verschiedene Aspekte ergeben sich aus philosophischen, künstlerischen und literarischen Ansätzen, die Ambivalenz und Widerspruch als Ausdrucksmerkmal verwenden. Auch in den Religionen begegnen wir widersprüchlichen Lehren und Texten sowie den Versuchen, die vermeintlichen Widersprüche durch unterschiedliche Auslegungen und Wahrnehmungen zu erklären. Auch die Natur und die Naturwissenschaften kommen nicht ohne Widersprüche aus.

Ambivalenz hilft, sich weiter zu entwickeln

In verschieden Modellen zum Entscheidungsprozess zeigt sich, dass ambivalente Phasen praktisch in jedem Entscheidungsfindungsprozess vorkommen, fast immer schon in einem sehr frühen Stadium dieses Prozesses. Das zeigt, dass Ambivalenz und Widerspruch nicht nur normal sowie unvermeidbar sind und nicht zwingend zu Konflikten und Schwierigkeiten führen müssen, sondern im Gegenteil häufig ein grosses Potenzial für Entwicklung und Veränderung in sich bergen.

Ebenso unterschiedlich wie diese Ambivalenzen sind diejenigen, die uns am Lebensende begegnen. Ich möchte hier zur Veranschaulichung einige Beispiele aufzeigen in denen Betroffene vom jeweiligen Betreuungsteam ambivalent erlebt wurden und dadurch Schwierigkeiten oder Herausforderungen im Team entstanden.

Beispielsweise äussert eine sehr schwer von einer unheilbaren Muskelerkrankung betroffene Patientin, die in einem stationären Hospiz lebt und die in allen Aktivitäten des täglichen Lebens auf Unterstützung angewiesen ist, dem Pflegepersonal gegenüber täglich, dass sie sterben möchte. Der Ärztin gegenüber spricht sie sich jedoch wiederholt für eine Verlegung auf die Intensivstation und eine intravenöse Antibiotikatherapie aus, sollte es zu einem Infekt kommen.

Eine andere Bewohnerin eines Hospizes in der letzten Lebensphase, die an einer weit fortgeschrittenen Tumorerkrankung leidet, lehnt während ihres ganzen Lebens und ebenso während ihres Aufenthaltes im Hospiz das Christentum vehement ab. Sie findet Kraft und Ruhe im Buddhismus, freundet sich jedoch auch mit Vorstellungen des Islam an. In ihren allerletzten Lebenstagen jedoch wünscht sie sich einen katholischen Pfarrer an ihr Bett.

Ein anderer ebenfalls von einer Tumorerkrankung betroffener Patient in der letzten Lebensphase – der von einem ambulanten Palliativteam betreut wird – äussert in wiederholten Gesprächen, an denen auch seine Familie teilnimmt, dass er sterben und auf keinen Fall ins Spital möchte. Dennoch wird das Palliativ-Team wiederholt angerufen, wenn sich der Zustand verschlechtert mit der Frage, ob der Patient ins Spital gebracht werden müsse.

Tipps und Tricks für Teams

Diese und ähnliche Situationen werden von Betreuungsteams immer wieder erlebt. Das kann zu Konflikten, Unsicherheiten, Ratlosigkeit, Misstrauen im Team oder auch der Frage führen: Was ist richtig? Wie sollen wir uns verhalten? Nicht selten muss eine Situation einfach ausgehalten, Zerrissenheit akzeptiert und mitgetragen werden.

Als grösste Herausforderungen kristallisieren sich für das Betreuungsteam folgende Fragestellungen heraus:

  • Was will der / die PatientIn?
  • Was ist die Wahrheit?
  • Was ist wirklich richtig?
  • Wie finden wir das heraus?
  • Wie machen wir es richtig?
  • Wo haken wir ein?
  • Wie gehen wir mit der Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten um?
  • Wie begegnen wir den Herausforderungen im Team?

Dennoch wird nicht jede palliative Situation, in der Ambivalenz erlebt wird, als schwierig wahrgenommen. Im Gegenteil äussert das Betreuungsteam auch immer wieder, wie gut die Herausforderung, das kreative Potential, die Abwechslung, die Unmöglichkeit nach Schema zu arbeiten, die Notwendigkeit des Austausches etcetera erfahren werden. Es werden Chancen beschrieben, neue Wege zu gehen, Flexibilität zu leben und keine Routine aufkommen zu lassen, Chancen für Wachstum, jedoch auch für die Entwicklung von etwas Gemeinsamem.

Gestützt auf Hinweise aus der Fachliteratur wie auch aufgrund von Ideen und Vorschlägen aus dem Onko-Plus-Team lässt sich zusammentragen, was im Umgang mit ambivalent erlebten Situationen hilfreich sein kann:

  1. Räume öffnen durch Gestaltung der Beziehungen zu den Betroffenen, im Betreuungsteam und zu sich selbst.
    Wozu menschliche Begegnung leben, Offenheit in alle Richtungen bewahren, Multidisziplinarität nutzen, eigene Reflexion sowie das narrative Element nutzen, gehören.
  2. Handlungsspielraum gewinnen durch unterschiedliche Herangehensweisen an die Ambivalenz.
    Hierunter fallen die Aspekte des Anerkennens der Ambivalenz und sich diese zu Nutzen machen sowie sie als normal zu begreifen und zwischen Unterstützungsbedarf und Pathologisierung zu unterscheiden
  3. Äussere und innere Bedingungen wahrnehmen und nach Möglichkeiten gestalten.
    Diese These zielt auf den Zeitfaktor ab, das Anerkennen der vorgegebenen Möglichkeiten, den Versuch der Sinnfindung im Jetzt und mit dem was ist, sowie den Einsatz von Theorien zum Verständnis.
  4. Die eigene Wahrnehmung durch einen Perspektivenwechsel verändern.
    Durch den Versuch eine andere Perspektive einzunehmen, wie zum Beispiel die hermeneutische, die der PatientInnen oder auch eine Metaebene, kann es gelingen, die eigene Wahrnehmung einer Situation zu verändern.

Es lässt sich erkennen, dass die einzelnen Aspekte nicht für sich allein umgesetzt werden können, sondern sich gegenseitig bedingen. Nur in einem Team, in dem eine offene wertschätzende Kommunikation herrscht, wird ein solcher Austausch über das unterschiedliche Erleben von Ambivalenz möglich sein. Nur mit genügend Zeit sind Wahrnehmung wie auch Kommunikation und Erholung möglich. Nur ein Betreuungsteam, das in der Lage ist zu reflektieren, wird auch einen Perspektivenwechsel vornehmen können.

Austausch auf Augenhöhe statt Pathologisierung

Zweifellos ist Ambivalenz in palliativen Situationen ein vielschichtiges Phänomen, das Herausforderungen für alle Beteiligten mit sich bringt. Wenn es jedoch gelingt, diese als Entwicklungsmöglichkeit für alle zu begreifen, wenn Kommunikation möglich ist, ein Austausch auf Augenhöhe anstelle von Misstrauen und Pathologisierung stattfindet, und die widersprüchlich erscheinende Situation nicht als ein mühsamer überflüssiger Zusatzaufwand erlebt wird, kann Ambivalenz durchaus eine grosse Chance sein – für Betroffene, ihre Angehörigen und das ganze Betreuungsteam.

Umsetzen lassen sich diese Ideen nur in Strukturen, die Zeit bieten und Raum. Es ist von jedem die Bereitschaft nötig, Dinge nicht schwarzweiss und ausschliesslich rational zu betrachten, sondern Kreativität zuzulassen. Mit gesundem Menschenverstand, Chancen zu erkennen, Herausforderungen anzunehmen und nicht nur als professionelle ExpertInnen vor Ort zu sein, sondern vor allem auch den Betroffenen als Menschen zu begegnen und mit ihnen in einen Dialog zu treten. Dieses immer wieder neu, täglich, unabhängig von der Anzahl der absolvierten Weiterbildungen und Kurse, vorgegebenen Regeln und Standards.

Abschliessend lässt sich festhalten, dass Ambivalenz ein menschliches Phänomen ist, das auch in palliativen Situationen einige Herausforderungen, sowie vor allem unzählige Chancen für alle Beteiligten bieten kann.

 

Silke Willrodt ist diplomierte Pflegefachfrau Höfa 1 und hat einen Mastertitel in Palliative Care inne. Dieser Blogbeitrag beruht auf ihrer Masterarbeit zum Thema «Ambivalenz am Lebensende», die sie an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Wien, Graz geschrieben hat. Die ebenfalls mit alternativen Heilmethoden in der Palliative Care vertraute Fachfrau, zum Beispiel Wickeln, arbeitet bis Ende Mai 2017 bei Onko Plus. Danach wechselt sie ins Pallivita Bethanien.

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