Strahlefrau mit Tiefgang
15.12.22
Palliaviva-Mitarbeiterin Ankie van Es zeichnet sich durch ihre gute Laune und ihr ansteckendes Lachen aus. Dass die Niederländerin auch schon durch tiefe, dunkle Täler gewandert ist, erzählt sie auf einem Spaziergang.
Ankie van Es’ Markenzeichen ist ihr schallendes Lachen. Sie scheint immer gut drauf zu sein, stets fröhlich. Stimmt das? Die 53-Jährige überlegt, während sie in einer kurzen Arbeitspause zügig durchs Quartier spaziert. «Ja, ich bin tatsächlich meistens gut gelaunt und wenn nicht, lasse ich es mir nicht anmerken.» Ihre Resilienz, ihre psychische Widerstandskraft, habe sie wohl ihrer jahrelangen Berufserfahrung in der Palliative Care zu verdanken. Der tägliche Umgang mit den Themen Krankheit, Sterben und Tod hat die Pflegefachfrau robuster gemacht. Sie habe gelernt, Privates und Berufsleben immer besser zu trennen, sagt sie.
Neben den Erlebnissen in ihrem Beruf bringt van Es auch ihre eigene einschneidende Erfahrung mit Verlust mit: Vor zwölf Jahren verlor sie ihren Mann, als er auf einer Skitour von einer Lawine verschüttet wurde. Zwei Polizisten standen vor van Es’ Tür. Sie dachte zuerst an Geschwindigkeitsbussen. Als der Name ihres Mannes fiel, wurde ihr klar, dass etwas Schlimmes passiert war. In einer ersten Phase habe sie einfach funktioniert, sagt sie. «Ich machte wie im Traum, was nötig war. Als ich für eine Abschiedsfeier nach Holland fliegen wollte – mein Mann war ebenfalls Holländer gewesen – und dies wegen des rauchspuckenden Vulkans in Island nicht konnte, geriet ich in Panik. Ich sass mit der Urne in der Schweiz, hatte Heimweh und konnte nicht heim.» Schliesslich fuhr sie mit dem Zug hin.
Trauererfahren
Diese unerwartet heftigen Reaktionen auf scheinbar Unwichtiges hätten sie überrascht. «Ich kannte mich selber nicht mehr. Die Trauer verändert einen.» Sie holte sich Hilfe von einem Psychologen und von einer Körpertherapeutin. Ihr damaliger Arbeitgeber brachte ihr viel Verständnis entgegen, und sie musste zu Beginn zum Beispiel keine Nachdienste leisten.
Mit der Zeit lernte Ankie van Es, die Trauer ins Leben zu integrieren, das momentan Beste aus der Situation zu machen. Zu Beginn noch ohne Freude. «Langsam, langsam nahm ich wieder mehr Teil am Leben, ging auch mal in den Ausgang, konnte es irgendwann wieder geniessen. Die Freude kam zurück und überraschenderweise auch die Liebe.» Heute lebt van Es mit ihrem neuen Partner, erneut einem Holländer, am Nordrand des Limmattals.
Diese private Erfahrung habe sie insofern verändert, als sie vor allem die Angehörigen, die einen sterbenden Menschen liebevoll umsorgen, besser verstehe, sagt van Es. Sie geht an einem Schulhaus vorbei, aus dem lärmende Kinder strömen. Sie lässt sich nicht aus dem Gedanken reissen. «Vor dem tatsächlichen Tod findet bereits Trauer und Abschiednehmen statt.» Sie weiss nun auch, was auf die Hinterbliebenen nach dem Tod zukommen kann, kennt die Trance und die unerwartet heftigen Reaktionen.
Wissensdurstig
Ankie van Es erhielt kürzlich eine ganz besondere Auszeichnung für ihr Wirken: Sie durfte an einer sogenannten Bigorio-Richtlinie mitarbeiten, an einer anerkannten Empfehlung, wie in der Palliative Care mit assistiertem Suizid umgegangen werden soll. Eine Gruppe von Expertinnen und Experten zog sich dafür mehrere Tage in ein Kloster in Bigorio TI zurück. Van Es hatte sich auf eine Ausschreibung im Fachmagazin von palliative.ch gemeldet. Die Arbeit sei sehr intensiv und bereichernd gewesen, erzählt sie. Nun wird sie voraussichtlich auch in die Leitung der Fachgruppe Pflege von palliative.ch aufgenommen.
Nach dem Master in Palliative Care absolviert van Es derzeit auch den Master of Science in Palliative Care. Dass sie sich eines Tages auf ihren Lorbeeren ausruhen wird, kann man sich nicht vorstellen. Im Gegenteil: Ein starker Wissensdurst treibt sie an. Ihre Ausbildung zur Pflegefachfrau machte sie in Holland, obwohl ihr ursprünglicher Berufswunsch Physiotherapeutin gewesen wäre. «Mir fehlte aber der schulische Abschluss in Mathematik und Physik. Man riet mir davon ab», erzählt sie mit einem leisen Bedauern in der Stimme. Nach ihrem Pflege-Diplom kam sie zum ersten Mal in die Schweiz. Von 1991 bis 1993 arbeitete sie in Olten, reiste danach herum, arbeitete eine Zeit lang in Israel, bevor sie wieder in die Niederlande zog. Dort lernte sie ihren Mann kennen, mit dem sie 1999 wiederum in die Schweiz auswanderte. «Wir liebten beide die Berge. Ausserdem war der Bedarf nach ausländischen Arbeitskräften im Schweizer Gesundheitswesen damals bereits gross.»
Aus Holland brachte sie die Erfahrung in einem Spital mit, wo onkologische Patientinnen und Patienten von der Diagnosestellung bis zum Sterben begleitet wurden, «auch wenn man damals noch nicht von Palliative Care sprach». Dort machte van Es eine Weiterbildung in Onkologiepflege. In der Schweiz war sie zuerst im Universitätsspital Zürich in anderen Abteilungen tätig, bis sie schliesslich in der Radioonkologie landete, wo es auch einige Palliativbetten gab. «Dort packte es mich. Die Betreuung der Patientinnen, Patienten und eben auch der Angehörigen gefiel mir. Dass man kranke und gesunde Menschen in einer schicksalhaften Situation begleitet, dieser Mix, hat mich immer fasziniert.» Seit knapp drei Jahren arbeitet Ankie van Es nun bei Palliaviva. Sie ist Teil des Dielsdorfer Teams und mit Herzblut auch der Arbeitsgruppe «Angehörige und Rituale».
Spirituell
Neben den schulmedizinischen Behandlungen interessierten van Es schon immer auch die alternativen Angebote. Privat praktiziert sie schon lange Yoga und Meditation. Als ihre Yogalehrerin eine Ausbildung zur Klangschalen-Therapeutin machte und sie das «Versuchskaninchen» war, fand sie ebenfalls gefallen an der Arbeit mit den klingenden Schalen. Sie führte heute eine eigene Klangschalen-Praxis, wo sie an einem Tag pro Woche gesunde Menschen behandelt, aber auch schwerkranke. Das Vorgehen erklärt sie so: «Die Behandelten können sich ganz auf die Klänge einlassen. Die Schalen stehen zum Teil auf ihrem Körper. Die Vibrationen machen, dass sie sich entspannen können, und sie bewirken etwas im Körper.» Die Theorie besage, dass die Vibrationen die Zellen ein bisschen «ankicken» und so Energiebahnen deblockieren sollten.
Van Es sieht diese Tätigkeit als Ergänzung zu ihrem Hauptberuf in der Palliative Care. Sie fand es immer wichtig, dass Patientinnen und Patienten in palliativen Situation die Möglichkeit haben, selbst Einfluss zu nehmen auf ihre Behandlung und neben den Standards eigene Methoden zu wählen.
Sportlich und humorvoll
Ankie van Es treibt viel Sport zum Ausgleich. Sie geht immer noch Bergsteigen, Klettern und auf Skitouren. Nach dem Tod ihres ersten Mannes jedoch «weitgehend ohne Risiko». Ihr neuer Partner sei nicht ganz so angefressen vom Bergsport wie sie, fahre aber gern Rad. Diesen Sommer machten die beiden deshalb Veloferien in Norwegen.
Ja, gerade in diesem Beruf sei es wichtig, Körper und Geist in Einklang zu bringen, «was mir aber natürlich auch nicht jeden Tag gelingt», sagt van Es und bricht in ihr charakteristisches, schallendes Lachen aus. Leichter Regen hat eingesetzt. Sie nähert sich wieder dem Palliaviva-Büro in Oerlikon. Sonst nehme sie es mit Humor. Dieser sei ebenfalls ein wichtiger Bestandteil, eine Situation zu entspannen. Viele Patientinnen, Patienten und Angehörigen liessen sich anstecken. «Mein Lachen tut ihnen auch gut», ist die Pflegefachfrau überzeugt.