Trotz Trauer das Fest begehen
14.12.18
Ruthmarijke Smeding ist Fachfrau für Trauerbewältigung. Sie sagt, dass es für Trauernde wichtig ist, neue Rituale für Weihnachten zu finden und das Fest so gut wie möglich, mit ihren Anwesenden und ihren «anwesenden Abwesenden» zu begehen.
Wir befinden uns kurz vor Weihnachten. Wie erlebt ein Mensch, der kürzlich eine geliebte Person verloren hat, die vorweihnächtliche Zeit?
Ruthmarijke Smeding: Seine Trauer wird oftmals verstärkt. Denn in unseren westlichen, christlich orientierten Kreisen ist Weihnachten das Fest des Jahres. Es gaukelt vor, dass wir es schön haben, Menschen reisen an, um zusammen zu sein. Da wird besser gekocht, da ist viel los. Die Adventszeit ist ja der Countdown für Weihnachten, es wird also immer ein bisschen mehr, es wird eine Kerze mehr angezündet, es steuert alles auf dieses Hoch zu. Viele, die jemanden verloren haben, kriegen Angst: Wie kann ich Weihnachten ohne ihn oder sie erleben? In der europäischen Kultur ist Weihnachten stark familienorientiert. Wichtig ist der innere Kreis. Für die Trauernden hat der innere Kreis ein Loch. Diese Person ist nicht weg, sondern anwesend abwesend, und anfänglich haben viele Trauernde noch keine Ahnung, wie sie trotzdem gut weiterleben können.
Erleben das alle Trauernden so?
Nein. Manche Menschen sind so gut eingebunden in ihre Familie und Traditionen, dass sie zuversichtlich sind, gut über die Runden zu kommen. Am anderen Pol befinden sich die Trauernden, die sich am liebsten die Decke über den Kopf ziehen und warten würden, bis alles vorbei ist.
«Wie ich es jetzt begehe, zum ersten Mal ohne die geliebte Person, bildet auch meine Erinnerung fürs nächste Jahr.»
Was hilft?
Im ersten Jahr ist das Allerwichtigste, dass man einen Weg findet, das Fest trotzdem zu begehen und sich nicht fallen lässt. Wie ich es jetzt begehe, zum ersten Mal ohne die geliebte Person, ist nicht nur hilfreich für dieses Jahr, sondern bildet auch meine Erinnerung fürs nächste Jahr.
Gibt es auch andere Zeiten im Jahr, die ähnlich schwierig sind?
Nicht ähnlich, aber anders schwierig. Ich denke, dass der Todestag und zum Beispiel der Tag, an dem ein Unfall die geliebte Person genommen hat, nochmals viel Trauer auslösen können. Unsere Erfahrungen mit den Trauernden, mit denen wir Modelle entwickeln, zeigen, dass wir am besten durchkommen, wenn wir solch schwierige Tage nicht über uns ergehen lassen, sondern die Geschehnisse zu kontrollieren versuchen, indem wir solche Tage durchplanen.
Heisst planen und begehen, ein Ritual durchzuführen?
Ja. Umso stärker die früheren Rituale waren, zum Beispiel zu Weihnachten, desto mehr braucht es einen neuen Umgang, der einschliesst, dass wir jemanden verloren haben. Wir, die von mir Ausgebildeten und ich, haben dazu jahrelang sogenannte Stützpunkte für Trauernde durchgeführt. Ich sass in einem Café und Trauernde konnten zu mir kommen und ihr Weihnachtsritual planen. Zuerst haben wir das frühere Ritual auseinandergenommen. Wenn die Struktur klar war, haben wir geschaut, wo der Verstorbene am meisten fehlt. Diese Punkte haben wir dann versucht zu verwandeln, die verstorbene Person auf neue Art einzuschließen und Weihnachten so gut zu begehen.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
In eine Familie war der Opa gestorben. Vor allem die Enkel hatten grosse Angst vor den nächsten Weihnachten, denn er hatte jeweils zur Bescherung geklingelt. Nachdem die Mutter das Ritual mit mir analysiert hatte, setzte sich die ganze Familie hin und besprach, wie sie Weihnachten ohne Opa gestalten könnten. Sie beschlossen etwa, an seinen Platz ein Porträt zu stellen. Zuletzt ging es um die Frage, wer in diesem Jahr das Klingeln übernehmen sollte. Es wurde der jüngste Enkel gewählt. Weil er so Verbindung mit seinem Opa schaffen konnte, den er nicht lange erleben durfte. Wollen Sie ein anderes Beispiel hören?
«Ich sagte: Sie müssen Ihrer Mutter den Raum geben, Witwe zu sein in diesem Weihnachtsritual.»
Ja, bitte.
Ein junges Ehepaar erzählte, dass die Mutter der Frau seit acht Jahren mit ihnen Weihnachten feiert, aber an diesen Tagen immer wieder ein Streit entbrannte. Ich fand heraus, dass der Mann dieser Frau und der Vater der Tochter vor neun Jahren gestorben war. Seitdem wurde das Weihnachtsfest bei der Tochter begangen. Sie hatten aber dieselben Rituale wie vorher bei den Eltern beibehalten. Ich sagte: Sie müssen Ihrer Mutter den Raum geben, Witwe zu sein in diesem Weihnachtsritual. Wir entwarfen einen neuen Ablauf. Sie holten die Mutter vom Bahnhof ab und fuhren als erstes auf den Friedhof, legten einen Kranz aufs Grab des Vaters, sprachen miteinander und zündeten ein Licht an. Die Mutter weinte sehr. Zu Hause fragten sie sie, was denn für sie wichtig sei, um mit ihnen Weihnachten zu feiern. Das Ritual wurde verändert, man konnte es zusammen aushalten. Streit gab es nicht mehr.
Wie verhält sich die Trauer mit der Zeit?
Sie hat Hochs und Tiefs – und zwar unerwartet hohe Hochs und tiefe Tiefs. Manchmal ist die Trauer schwächer als gedacht, aber dann überfällt sie einen wieder. Es gibt für viele Menschen spezifische Auslöser in der Weihnachtszeit. Eine Zeit lang lebte ich in Belgien. In der Adventszeit wurde dort auf den Strassen häufig ein Lied gespielt, das auch auf der Beerdigung meines Bruders lief. Ich hielt fast nicht aus, dass dieses Lied einfach so aus den Lautsprechern schmetterte und mied in dieser Zeit regelmässig das Land. Die Trauer wurde in diesen Momenten wieder so stark, wie ich sie nach so langer Zeit nicht erwartet hätte. Auch Gerüche können Auslöser sein, auch deswegen kann die Weihnachtszeit schwierig sein, zum Beispiel wenn die verstorbene Frau immer Plätzchen buk. Auch wenn der trauernde Witwer das selbst nicht mehr macht, riecht im Advent das ganze Land nach Plätzchen und die Erinnerungen können dann schön, aber auch sehr schwierig sein.
Können Sie Ihr Modell der Trauerspirale ganz einfach erklären?
Es gibt drei Trauergezeiten®: die Zeit der zwei Gesichter oder die Januszeit® [1], die Labyrinthzeit ® [2] und die Regenbogenzeit ® [3]. Der Begriff Gezeiten deutet an, dass sie immer wiederkehren, zum Teil sehr schnell. Zu Beginn der Trauer macht man etwa die Trauergezeiten mehrere Male in einer Stunde durch. Die drehende Spirale verlangsamt sich allmählich, wodurch man sich vermehrt in einer einzelnen Zeit befindet und einen Weg sieht, wie man mit seiner Trauer umgehen könnte, Fähigkeiten entwickelt, diese zu meistern oder ihren Platz in der Biografie zuzuweisen. Plötzlich kann es wieder schwierig sein, und es ist, als ob man eigentlich noch nichts gelernt hat.
Man kann also nur darauf hoffen, dass die Spirale mit der Zeit langsamer dreht.
Die Hoffnung kann sein, dass ich die Spirale verlangsamen kann, wenn ich meine Möglichkeiten einsetze, neue Fähigkeiten erarbeite oder vergessene Fähigkeiten aktiviere.
«Viele Leute bleiben mit einer Resttrauer zurück, die wieder getriggert werden kann, zum Beispiel in der Weihnachtszeit.»
Stimmt das Sprichwort «Die Zeit heilt alle Wunden» in dem Fall nicht?
Nein, sie heilt nicht alle Wunden. Vor allen Dingen heilt sie sie nicht, sondern sie lehrt mich, mit ihnen zu leben. Viele Leute bleiben mit einer Resttrauer zurück, die wieder getriggert werden kann, zum Beispiel in der Weihnachtszeit.
Die Mitarbeitenden von Onko Plus rufen zirka sechs Wochen nach einem Todesfall die Hinterbliebenen an und fragen, wie es ihnen geht und wie sie Krankheit, Sterben und Tod erlebt haben. Finden Sie das sinnvoll?
Ja, absolut.
Wäre ein anderer Zeitpunkt sinnvoller?
Wenn man mehr Kapazitäten hätte, und zum Beispiel mit Freiwilligen arbeiten könnte, würde es Sinn machen, nach vier bis fünf Monaten erneut nachzufragen. Denn die meisten Trauernden sind erstmals sehr unterstützt von der Familie. Die Schwere des Weges entfaltet sich erst später.
Wie stellt man fest, wenn jemand eine abnormale Trauer entwickelt?
Das ist nicht einfach. Seit Kurzen hat die WHO eine neue Kategorie eingeführt für eine psychologische Diagnose, wenn die Trauer aus dem Ruder läuft. Sie heisst verlängerte Trauer-Krankheit (VTK). Die Krankenkassen sollen in Zukunft für deren psychotherapeutische Behandlung aufkommen. Es wäre schön, wenn Psychologinnen und Psychologen noch besser ausgebildet würden für die Trauerbegleitung. Denn eine interventionelle Trauertherapie dauert im Schnitt nicht länger als zwölf Sitzungen. Ich sehe aber, dass Menschen, deren Trauer aus dem Ruder gelaufen ist, manchmal jahrelang in Psychotherapie sind. Es ist schwer zu sagen, ob dies nötig wäre, oder ob da nicht mehr aufgearbeitet wird, als normalerweise hochgekommen wäre, hätte der Therapeut nicht nachgehakt. So suggeriert es zumindest manche Forschung.
Was kann ich als Privatperson tun, wenn ich weiss, eine Bekannte oder ein Nachbar hat kürzlich jemanden verloren?
Nicht den Kontakt vermeiden, sondern sich regelmässig melden oder vorbeigehen, zum Beispiel alle vierzehn Tage am gleichen Abend. Regelmässigkeit ist wichtig. Die trauernde Person kann sich so vornehmen: In zwei Wochen bespreche ich das mit ihr. Man muss jemanden nicht zwingen, über die Trauer zu sprechen, sondern einfach da sein, ein gutes Gespräch führen und warten, was kommt. Wenn eine Familie durch den Verlust zum Beispiel der Mutter sehr belastet ist, kann man ganz konkrete Angebote machen, etwa jeden Montag die Wäsche abzuholen. Oder vorschlagen: Ich bringe Ihnen jeden Dienstag eine Wähe vorbei. Oder fragen: Soll ich Sie lehren, wie man Hemden bügelt? Nach vier bis sechs Monaten würde ich Kassensturz machen, indem man fragt: Was können wir als Freunde oder Bekannte weiterhin leisten? Herauszufinden, wo die Trauernden weiterhin Unterstützung brauchen, wird dynamisch sein. Der Weg entfaltet sich, geht auf und ab.
«Als Fachpersonen weiss man ungefähr, wie eine Krankheit verlaufen wird. Die Angehörigen wissen das nicht, sondern arrangieren sich mit der Schwere der Situation.»
Beschäftigten Sie sich auch mit der Trauer vor dem Tod?
Immer mehr. Ich habe einen Spruch entwickelt, ihn aber noch nicht abschliessend in der Praxis getestet: Wenn Trauernde vor dem Tod einen Trage-Flügel bauen könnten, müssten sie nach dem Tod nur noch den zweiten Flügel wachsen lassen, um wieder fliegen zu können. Der erste Trage-Flügel, der vor dem Tod, entsteht, wenn Professionelle Hilfeleistende befähigen statt weiterhin zu beschützen. Das heisst: nicht ausweichen, sondern ansprechen, Menschen helfen, sich klarzuwerden, wo sie stehen. Als Fachperson weiss man ungefähr, wie eine Krankheit verlaufen wird. Die Angehörigen wissen das nicht, sondern arrangieren sich mit der Schwere der Situation. Man muss sie dort abholen, wo sie sind, und ihnen möglichst klarmachen, worum es jetzt geht, zum Beispiel fragen, ob noch etwas Wichtiges zu besprechen ist. Diese Befähigung vorher ist wichtig.
Was ist mit der Trauer der Sterbenden selbst?
Die ist eine andere. Die Angehörigen trauern bis zum Tod, durch den Tod hindurch bis zur Beerdigung und danach meistens nochmals doppelt so lange. Bei den Sterbenden geht es darum zu realisieren, dass man sich verabschieden muss bei fortschreitender Krankheit, die das Weiterleben schwer macht. Das ist sehr hart und schwierig, aber ich denke, dass Transparenz hilft. Meistens können Sterbende noch ganz konkrete Wünsche realisieren. Wir denken immer: Wir sind brutal, wenn wir ihnen mit ihnen zur Einsicht kommen, dass ihr Leben endet. Aber wenn wir den Weg der Krankheit mit ihnen gehen, so weit wie nur möglich, dann entsteht auch neues Vertrauen und letzte Wünsche können besprochen werden. So können Verbindungen für die Weiterlebenden entstehen, die über den Tod hinaus wichtig sind.
[1] Die Januszeit® ist die Zeit in der das Vorher, in dem du noch da warst und dem Jetzt, in dem du fehlst, sich als scheinbar unlösbares Dilemma anbietet.
[2] Die Labyrinthzeit® ist vor allem durch den neu entstehenden Weg gekennzeichnet. Sie umfasst den grössten Teil des Trauerweges und die immer wiederkehrenden Einbrüche, die man bei der Neuordnung der eigenen Biografie erlebt.
[3] Die Regenbogenzeit® hat die Perspektive für die Zukunft eröffnet: kurz oder länger wird klar, dass es möglich sein wird, mit der geliebten Person in der Erinnerung weiter zu leben.
Ruthmarijke Smeding ist Unterrichtspsychologin. Ihr Trauermodell beruht nicht auf psychotherapeutischen Ansätzen, sondern setzt auf Lehr- und Lernprozesse, unter der Annahme, dass der Trauerweg eine der grössten Herausforderungen im Leben ist. Sie bezeichnet sich als «semi-pensioniert», denn sie ist immer noch international gefragte Expertin in ihrem Gebiet, das sich zusammensetzt aus Trauerbegleitung und Lehre einerseits, sowie Lehre für den Unterricht in Palliative Care für Professionelle und Freiwillige andererseits. Sie arbeitet in der Schweiz, Deutschland und England und wohnt in Zumikon.
Ein Kurs in Trauerbegleitung von Smeding ist für 2019/2020 in Aarau vorgesehen, im Haus der Reformierten: info@palliative-begleitung.ch. Die Anmeldefrist wurde verlängert, es sind noch Plätze frei.