Wenn die ALS-Diagnose die Angehörigen zu erdrücken droht

31.10.24

Danke fürs Teilen.
Porträt von Palliaviva-Mitarbeiterin Nadja Inderkum.

ALS ist eine fortschreitende, unheilbare Erkrankung des Nervensystems. Palliaviva-Mitarbeiterin Nadja Inderkum verfasste über ALS und die Belastung von pflegenden Angehörigen ihre Master-Arbeit. Diese soll mit einem Online-Projekt eine Fortsetzung finden.

Nadja Inderkum ist in ihrem Arbeitsalltag immer wieder bei ALS-Betroffenen zu Hause. Da gibt es beispielsweise den Patienten Mitte siebzig, der seit mehreren Jahren von Palliaviva betreut wird. War er zu Beginn, nach der Diagnose, noch mobil und fuhr kürzere Strecken mit dem eigenen Auto, verbringt er die Tage mittlerweile auf dem Pflegebett sitzend im Wohnzimmer. Über ein Gerät und eine Maske wird ihm ständig Sauerstoff zugeführt. Mit dem Rollstuhl schafft es die Ehefrau alleine, ihn aufs WC zu begleiten. Spitex-Betreuung für die Grundpflege benötigen die beiden bisher nicht, die Frau übernimmt alles, kommt dabei aber zunehmend an ihre Grenzen.

Je länger, desto intensiver

Der Weg dieses Patienten ist wie der von allen ALS-Betroffenen leider vorgezeichnet. ALS ist fortschreitend und unheilbar. Die schwere neurologische Erkrankung führt zu zunehmenden Lähmungen und manchmal auch unkontrollierten Muskelanspannungen. Das Leid der Patientinnen und Patienten tragen die nächsten Angehörigen mit: Oft pflegen sie die Betroffenen rund um die Uhr, und je länger die Krankheit andauert, desto intensiver wird die Pflege.

Nadja Inderkum, Pflegefachfrau im Palliaviva-Team, hat kürzlich ihren Master in Palliative Care an der OST – Ostschweizer Fachhochschule absolviert. Abgeschlossen hat sie mit einer MAS-Arbeit über die Situation der Angehörigen von ALS-Patientinnen und -Patienten. Denn was Eltern, Partnerinnen, Partner oder Geschwister von ALS-Betroffenen im Alltag leisten, beeindruckt sie immer wieder. «Der Verlauf der Erkrankung ist manchmal rasant», sagt sie. Es bleibt für die Betroffenen kaum Zeit, sich in einer Situation einzufinden, damit fertigzuwerden und sich ein Stück weit an den veränderten Alltag zu gewöhnen. Zu schnell nimmt die Pflegebedürftigkeit zu. Die Realität holt die Familien immer wieder ein.

Prognose von drei bis fünf Jahren

Hierzulande sind laut Angaben des Vereins ALS Schweiz 500 bis 600 Personen von der Krankheit betroffen. Die Ursachen der Erkrankung sind unklar, am häufigsten tritt ALS zwischen dem 50. und 70. Lebensjahr auf. Nur selten ist eine familiäre Häufung der Krankheit festzustellen. Zur durchschnittlichen Lebenserwartung heisst es auf der Website des Vereins ALS Schweiz: «In den meisten Fällen liegt zwischen den ersten Symptomen einer ALS und dem Lebensende eine Zeitspanne von drei bis fünf Jahren.»

Nadja Inderkum absolvierte ihren MAS mit Unterstützung von Palliaviva. Die Stiftung übernahm einerseits einen Teil der Ausbildungskosten und stellte ihr andererseits Zeit zur Verfügung. Die Unterstützung, die für Palliaviva selbstverständlich ist, ermöglichte es der Pflegefachfrau, die in einem 80-Prozent-Pensum arbeitet, sich berufsbegleitend weiter in Palliative Care zu spezialisieren.

Ihre MAS-Arbeit trägt den Titel «Unterstützungsbedürfnisse pflegender Angehöriger von Personen mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS) über den Krankheitsverlauf». Nadja Inderkum untersuchte mit einer Literaturrecherche und der Analyse von drei Studien, was Angehörige brauchen, um ihre Belastung zu verringern und ihr Wohlbefinden zu verbessern. Sie teilte die Unterstützungsbedürfnisse in vier Kategorien ein: «Selbstfürsorge», «emotionale Unterstützung», «Information, Beratung und Schulung» sowie «Koordination, Organisation und Administration».

Krank sein ist teuer

Bei ihrer Recherche bestätigte sich ein Eindruck, den sie immer wieder auch im Alltag bei Palliaviva gewinnt: Die Angehörigen sind stark belastet oder überlastet, und es ist für sie oftmals schwierig, sich im Dschungel der Bedürfnisse und der administrativen Anforderungen zurechtzufinden. Viele belasten finanzielle Sorgen, da sie beispielsweise Hilfsmittel wie einen Rollator oder später einen Rollstuhl anschaffen müssen. Dafür hätten sie zwar oftmals eine Unterstützung zugute, aber es ist herausfordernd, an die richtigen Stellen zu gelangen.

Nadja Inderkum hat in ihrer Arbeit nicht nur die Bedürfnisse ermittelt, sondern leitet daraus auch Empfehlungen für die Praxis, Forschung und Bildung ab. Unter anderem hält sie fest, dass Entlastungsstrukturen gestärkt und die Vereinbarkeit von Beruf und Angehörigenpflege verbessert werden müssten. Die betroffenen ALS-Patientinnen und -patientinnen brauchen manchmal eine bessere Aufklärung über den Verlauf der Erkrankung und die Belastung ihrer Angehörigen. Dies könnte es ihnen erleichtern, externe Unterstützung zuzulassen.

Initiative für ein Online-Tool

Mit der MAS-Arbeit ist es für Nadja Inderkum nicht getan. Sie hofft, dass ihre Recherche die Initialzündung für ein Projekt sein wird, das Angehörige von ALS-Betroffenen konkret unterstützen kann. Sie sagt: «Ich möchte mich für den Aufbau eines Online-Begleitprogramms einsetzen, das interdisziplinär und interprofessionell von verschiedenen Fachleuten begleitet wird.» Das Ziel wäre, ein Online-Tool aufzubauen, das für Angehörige rund um die Uhr erreichbar wäre.

Damit könnte man ihre Pflegekompetenz stärken, ihnen spezifische Informationen vermitteln und sie auch für die Selbstfürsorge sensibilisieren. Zudem empfiehlt Nadja Inderkum, den Zugang zu Selbsthilfegruppen sicherzustellen. «Es lohnt sich ausserdem die spezialisierte Palliative Care wie Palliaviva frühzeitig in die Betreuung von Personen mit ALS und deren Angehörigen zu integrieren.»

Wichtig wäre in ihren Augen auch, wenn pflegende Angehörige eine auf ALS spezialisierte Gesundheitsfachkraft als zentrale Ansprechperson hätten, die koordinieren und die pflegenden Angehörigen professionell beraten kann. Diese Zeit müsste die Gesundheitsfachperson entsprechend verrechnen können, was bisher aufgrund einer Lücke im Gesundheitssystem nicht möglich ist. Darum sind auch Organisationen wie Palliaviva auf Spenderinnen und Spender angewiesen.

 

Sind Sie pflegende Angehörige oder pflegender Angehöriger? Und überlegen Sie sich, sich anstellen zu lassen? ‒ Dann finden Sie hier unsere Orientierungshilfe.

 

Hier spenden

Helfen Sie Menschen in ihrer letzten Lebensphase.

Nach oben
Feedback

Vielen Dank für Ihren Besuch

Erfahren Sie auch weiterhin von unseren Neuigkeiten. Jetzt Newsletter abonnieren: