«Wer sagt, wie Trauer aussehen soll?»

12.07.22

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Palliative Care zu Hause

Mathias Bankays (55) Frau starb vor einem Jahr. Ihm und seinen zwei Kindern (14 und 18) geht es heute gut. Manchmal fühlt er sich schlecht, weil er nicht abgrundtief traurig ist. Er findet es aber wichtig, dass die Hinterbliebenen das Leben auch geniessen dürfen.

«Was wir als Angehörige eines schwerkranken Menschen tun können, ist, für unsere Liebsten da zu sein, so lange sie leben. Falls wir das von unserer Kraft her schaffen. Als Laien sind wir dabei aber auf Unterstützung angewiesen. Eine spezialisierte Fachperson an meiner Seite zu haben, die mir sagt, was meiner Frau Sandy, meinen Kindern, und auch mir helfen könnte, ist wichtig. Viele Menschen in unserem Umfeld haben zwar Hilfe angeboten, ihr Fokus lag aber meist auf der Kranken. Dabei ist doch eine ganze Familie betroffen, die von einfachen Hilfsangeboten wie Einkaufen, Essen vorbeibringen oder Putzen enorm entlastet werden könnte.

Mein Cousin ist Hausarzt und betreute auch meine Frau. Er verwies mich auf Palliaviva. Er sagte, ohne ein Palliative-Care-Team würde ich es nicht schaffen. Meine Frau wünschte sich, zu Hause zu bleiben, beziehungsweise verdrängte bis zuletzt die Tatsache, dass sie bald sterben könnte. Einen Monat vor ihrem Tod kaufte sie noch einen Pferdetransporter, weil sie bis zuletzt an das Wunder glaubte, wieder gesund zu werden.

Dem Oberarzt, der sie aus dem Spital heimschickte mit den Worten, er könne nichts mehr für sie tun, glaubte sie einfach nicht. Dass sie stets jede Unterstützung ablehnte, machte es schwierig für mich. Ich musste mich durchsetzen, damit wir Hilfe bekamen. In die Begleitung durch Spitex und Palliaviva willigte sie schliesslich ein.

Als Palliaviva-Mitarbeiterin Eveline Häberli zur Tür hereinkam, strahlte diese so viel Liebe und Lebensfreude aus, dass sie ansteckte. Menschen, die eine Miene machen wie sieben Tage Regenwetter, ertrug ich schlecht. Ausserdem war das grosse Wissen über die Medikamente hilfreich, die in den letzten Stunden angewendet werden können. Auch das Knowhow war wichtig, auf welche Signale ich achten muss, um zum Beispiel ein Dormicum zu verabreichen.

Das Verdrängen hielt meine Frau acht Jahre am Leben.» Mathias Bankay, ehemaliger pflegender Ehemann

Ich ahnte, wie es um meine Frau steht und dass sie bald sterben könnte. Sie hingegen hat es bis zum Schluss verdrängt. Ich wusste auch, dass ich sie am besten unterstütze, indem ich ihr beim Verdrängen helfe. Das habe ich auch mit Palliaviva so abgesprochen. Denn Frau Häberli wollte über eine Patientenverfügung reden, aber meine Frau blockte ab. Unter vier Augen sagte ich der Pflegefachfrau, dass dieses Verdrängen meine Frau bisher acht Jahre am Leben gehalten hat – und dass wir dabei bleiben sollten. Sogar der Onkologe unterstützte bis zum Schluss ihren Weg. Er sagte, er habe selten jemanden gesehen, der so kämpft.

Verdrängen ist vielleicht die negative Formulierung für «Hoffen auf ein Wunder». Wir haben Vieles ausprobiert, zum Beispiel vegane Diäten mit nur Rohkost. Wir sind wöchentlich zur onkologischen Kontrolle gefahren, meine Frau im Rollstuhl. Einmal fielen wir beim Rennen auf den Bus fast hin (lacht). Wir hatten Spass, und meine Frau hatte noch viel Lebensqualität. Ich konnte ihr helfen, indem ich sie nicht in Watte packte. Sie wollte kein Mitleid. Dieses Gefühl schadet meiner Ansicht nach sowieso allen Beteiligten mehr, als es nützt.

Palliaviva ergänzt die Spitex bei der Pflege von Menschen am Lebensende optimal. Trinken ging bei meiner Frau in den letzten Tagen zum Beispiel nicht mehr. Ich erhielt von Eveline Häberli den Tipp, dass ich den Mund meiner Frau auch mit einer Flüssigkeit befeuchten kann, die sie mag, zum Beispiel mit Saft, Rotwein oder Bier. Das nenne ich einen kreativen Ansatz. In den letzten Stunden muss man nicht mehr nach Dienstbüchlein gehen.

Meine Frau ass auch nicht mehr. Ich wusste nicht, wie ich mich in dieser Situation korrekt verhalten soll. Die Pflegenden von Palliaviva sprachen hier ebenfalls Klartext: Wenn der Schluckmechanismus nicht mehr funktioniert, ist Essen einzugeben sogar gefährlich. Solche Dinge habe ich in meinem Physik-Studium nicht gelernt. Ohne Institutionen wie Palliaviva können wir unseren geliebten Mitmenschen nicht die bestmögliche Betreuung angedeihen lassen.

Das Notfallszenario in der Schublade

In der Diagnosephase vor acht Jahren ging es mir viel schlechter als nach dem Tod meiner Frau. Damals brach ich emotional zusammen und weinte. Nachdem sie gestorben war, erschrak ich ein bisschen über meine Reaktion und die meiner Kinder, weil wir nicht emotional am Boden waren, wie es vielleicht zu erwarten gewesen wäre. Manchmal fühle ich mich auch schlecht deswegen. Aber wer sagt eigentlich, wie Trauer aussehen soll?

Wir hatten acht Jahre Zeit, uns auf diesen Moment vorzubereiten. Ich gab mir Mühe, meine Kinder nicht anzulügen, sondern offen mit ihnen zu sein. Zu Beginn sagte ich ihnen einfach, dass ich nicht versprechen könne, dass Mami wieder gesund wird. Ich sprach mit ihnen, ohne dass meine Frau es mitbekam. Ich erklärte den Kindern, dass das Verdrängen wichtig für ihre Mutter sei. Vor drei Jahren erfuhren wir, dass die ganze Leber voll Metastasen ist. Mir war klar: Wenn die Leber von dieser Art von Krebs befallen ist, wird sie irgendwann aufgeben.

In den letzten drei bis vier Lebensmonaten hatte ich einerseits noch mehr Zeit, die Kinder auf das Bevorstehende vorzubereiten und andererseits, mir einen Plan zurechtzulegen. Was kann ich tun, um bestmöglich für meine Frau da zu sein? Wie manage ich es danach, mit Kindern und Job? Das Worst-Case-Szenario hatte ich mir vor mehreren Jahren schon zurechtgelegt. Ich ticke so, auch bei Geschäftsentscheidungen, und überlege mir stets: Was ist das Schlimmste, das passieren kann? Und welche Wege schlage ich ein, damit ich nicht in Panik gerate? Ich lernte in der Ausbildung zum Piloten, Notfallszenarien einzuüben. Im Ernstfall muss ich nur noch die richtige Schublade öffnen. Das hilft extrem. Denn die auftauchenden Emotionen, Aufgaben und Verpflichtungen rund um die Begleitung eines todkranken Menschen sind sonst kaum zu stemmen.

Ich hatte Horror davor, nach der Beerdigung mit meiner Familie in einer Reihe zu stehen und allen mit Trauermiene die Hand zu schütteln.» Mathias Bankay, Witwer

Meine Frau starb Ende August. In den Tagen zuvor war sie immer schläfriger geworden, hatte wenig Schmerzen, war aber zum Teil unruhig. In den letzten Nächten fragten wir die Stiftung Orbetan für eine professionelle Nachtwache an, damit ich etwas mehr Schlaf bekam als zuvor. Mir war es wichtig, dass sie bis zum Schluss zu Hause bleiben konnte.

Nach ihrem Tod fragte ich denselben freischaffenden Theologen für die Beerdigung an, der uns damals getraut hatte. Mir war wichtig, dass an der Feier niemand schwarz gekleidet erscheint. Am Schluss der Abdankung sagte ich selbst noch ein paar Worte, bedankte mich bei den Anwesenden. Seit mein Grossvater gestorben war, hatte ich Horror davor, nach der Beerdigung mit meiner Familie in einer Reihe zu stehen und allen mit einer Trauermiene die Hand zu schütteln. Ich sagte also, die Anwesenden sollen sich an einen schönen Moment erinnern, den sie mit Sandy erlebt hatten, und falls gewünscht auch an ihrem Grab stehen bleiben. Meine Kinder und ich würden jetzt aber gehen. Anschliessend trafen wir uns im engsten Familien- und Freundeskreis, nicht um zu trauern, sondern um Sandys Leben zu feiern. Meine Kinder gestalteten einen Erinnerungstisch, für den sie zum Beispiel eine Fotocollage bastelten.

Wie sag ich es meinen Kindern?

Meine Kinder wurden in der christlichen Privatschule, die sie besuchen, psychologisch sehr gut aufgefangen. Von einer Kinderpsychologin, die wir ebenfalls konsultierten, lernte ich zwei wichtige Dinge: Erstens, dass man die Kinder nie anlügen soll. Zweitens dass sie selbst nur so viel fragen, wie sie in diesem Moment verarbeiten können. Man darf nicht erstaunt sein, wenn in einem schwierigen Gespräch über Mamis Krankheit die nächste Frage lautet, was es zum Znacht gibt. Das ist völlig normal. Dann hat das Kind vorerst genug Informationen und muss sie erstmal verarbeiten.

Als Physiker und Pilot bin ich ein rationaler Mensch. Ich finde einfach, auch wenn ein geliebter Mensch gestorben ist, müssen die, die zurückbleiben, möglichst glücklich weiterleben dürfen. Eine wundervolle gemeinsame Zeit mit meiner Frau ist zu Ende gegangen. Und das schönste Resultat davon sind unsere Kinder. Ich konnte mit ihr nicht darüber sprechen, was nach ihrem Tod sein wird. Aber mir war stets klar, dass ich irgendwann eine neue Partnerin haben darf. Wir sind nicht fürs Alleinsein gemacht. Der Partnerwechsel nach einem Todesfall ist jedoch ein Tabu.

Das Leben geht weiter. Das hat nichts damit zu tun, dass ich die Trauer nicht zulasse oder nicht regelmässig an sie denke. Sie wird immer ein Teil unseres Lebens bleiben, das sie wesentlich mitgestaltet hat.»

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