Worte auf der Goldwaage
24.06.20
An vier Tagen überwacht Beatrice Schäppi narkotisierte Patientinnen und Patienten im Operationssaal. Am fünften Tag behandelt sie Palliativpatientinnen und -patienten.
Beatrice Schäppi (58) fährt nach Niederweningen zu Frau M. In ihrem schnittigen, kleinen Fiat Punto hat sie alles dabei, was sie brauchen könnte: Medikamente, Material (zum Beispiel Blasenkatheter, Magensonde, Infusion) sogar ein Ultraschallgerät. Das braucht sie manchmal, um Aszites zu punktieren, das heisst, Flüssigkeit aus der Bauchhöhle zu entfernen.
Die Ärztin arbeitet an vier Tagen pro Wochen als Anästhesistin im Universitätsspital Zürich. Am fünften Tag betreut sie Patientinnen und Patienten von Palliaviva und der Stadtzürcher Palliative-Care-Teams. Sie bring viel Erfahrung als Schmerzspezialistin mit. Sie hat zehn Jahre im Schmerzambulatorium des Universitätsspitals Zürich gearbeitet. Im Vergleich zu Menschen mit chronischen Schmerzen seien Palliativpatienten «einfacher» zu behandeln, es sei eine dankbare Aufgabe. Sie wuchs in Biel auf und bezeichnet Mürren im Berner Oberland als ihre Heimat.
Frau M. sitzt auf der Bettkante des Pflegebetts, das im Wohnzimmer steht. Ihre Schwester stützt sie. Ankie van Es, Pflegefachfrau bei Palliaviva, hat der 59-Jährigen am Tag zuvor eine Schmerzpumpe installiert, verordnet von Beatrice Schäppi. Die Patientin leidet an einem metastasierten Bronchus-Karzinom. Auf van Es’ Anraten flog Frau M.s Bruder aus Südamerika in die Schweiz. Er ist ebenfalls im Raum, ausserdem einer der Söhne der Patientin sowie eine Nichte. Alle hören gespannt zu, was die Ärztin sagt.
Der Schmerz hat vermutlich eine grosse Verzweiflungskomponente.»
Beatrice Schäppi, Palliaviva-Ärztin
Frau M. klagt immer noch über Schmerzen in der Lebergegend, die von Metastasen herrühren, trotz des Geräts, das permanent ein Schmerzmedikament verabreicht, und mit dem sie bei Schmerzspitzen selbst einen Bolus auslösen kann. Die Ärztin kontrolliert den kleinen Computer, die Dosierung, fragt die Patientin mehrmals nach den Schmerzen, ebenso ihre Schwester. Diese sagt schliesslich, dass sie das Gefühl habe, die Schmerzsituation sei etwas besser. Die Ärztin spricht ruhig und beobachtet dabei die Patientin, die sich immer wieder erschöpft, aber mit runden Bewegungen, ins Kissen zurücksinken lässt und wegdämmert. Schäppi sagt, sie wolle die Dosis nicht erhöhen. «Der Schmerz hat vermutlich eine grosse Verzweiflungskomponente.» Die Schwester nickt.
«Haben Sie auch schon gemerkt, dass sie Atempausen macht», fragt sie die Angehörigen. Plötzlich stehen alle um Schäppi herum. «Was bedeutet das?», fragt der Sohn. «Kann man dagegen etwas tun?» Nein, sagt die Ärztin. Die Atempausen hätten mit der fortgeschrittenen Krankheit zu tun. Aus der Krankengeschichte weiss sie, dass die Patientin zu Hause sterben will. Sie lässt sich das nochmals von der Schwester bestätigen. Zudem stellte die Ärztin eine leicht gelbliche Färbung der Haut fest. Die Schwester sagt, sie wisse, was das bedeute. Ihr Vater sei an Leberkrebs gestorben.
Man darf den Angehörigen nicht zu viel Entscheidungsfreiheit lassen, denn sie sollen nicht mit Gewissensbissen weiterleben müssen.»
Beatrice Schäppi, Palliaviva-Ärztin
Beatrice Schäppi weiss aus eigener Erfahrung, dass Angehörige die Worte einer Ärztin auf die Goldwaage legen. «Wir müssen gut zuhören, aber auch konkrete Vorschläge machen», sagt sie. «Man darf den Angehörigen nicht zu viel Entscheidungsfreiheit lassen, denn sie sollen nicht mit Gewissensbissen weiterleben müssen.»
Familie M. verlässt sie mit dem Versprechen, am nächsten Tag eine Pflegende von Palliaviva vorbeizuschicken. Und sie hat noch in die Wege geleitet, dass das richtige Sauerstoffgerät geliefert wird. Was Schäppi zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiss: Das wird beides nicht mehr nötig sein. Frau M. wird um Mitternacht versterben.
Dieses Porträt ist im Jahresbericht 2019 von Palliaviva erschienen. Den ganzen Bericht lesen Sie hier.