Würdigen, was bleibt

19.12.19

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Tuerkenbund

In Zeiten der Klimademonstrationen ist Umweltschutz hip geworden. Heute weiss zudem jedes Kind, weshalb Artenvielfalt wichtig ist. J. B. setzte sich bereits vor dreissig Jahren für dieselben Ziele ein. Jetzt, wo sein Leben geendet hat, ist es Zeit, das Werk des bescheidenen Schaffers zu würdigen.

Herr und Frau B. sind ein eingespieltes Team. Das wird auch schon so gewesen sein, als der Hirnschlag weder J. B.s Motorik noch seine Kommunikation behinderte. Das Ehepaar sitzt am Esstisch, im Wohnzimmer seiner Jugendstilvilla. Der Blick schweift aus dem Erkerfenster über die Bahngeleise zum See. Sie lächeln beide schüchtern, aber freundlich. Sie wirken dünn und ein bisschen blass, ihre gepflegte Erscheinung lässt aber kaum erahnen, dass sie beide schwerkrank sind.

Frau B. legt eine grossformatige Fotografie auf den Tisch. Darauf ist die Landschaft rund um die Bündner Gemeinde Trimmis zu sehen. Sie bietet ihrem Mann mit dem Bild und ihren Erklärungen eine Steilvorlage. Diese Landschaft ist besonders, weil fünf Rüfen, Wildbäche, mit dem Hochwasser stets viel Geschiebe in die Ebene bringen. Mitgeschwemmt werden Samen und Keime der Bergflora. Deshalb findet man auch rund ums Dorf seltene Bergblumen.

Herr und Frau B. kamen erst vor 16 Jahren zurück an den Zürichsee. Zuvor lebten sie dort, in Trimmis, sechs Kilometer nördlich von Chur. Er war lange Jahre Kantonsschullehrer, unterrichtete am Gymnasium Chur Latein und Geschichte. Sie war Klavierlehrerin. Zusammen waren sie häufig in der Natur unterwegs, am Spazieren und Wandern. Beide waren fasziniert von Flora und Fauna dieser Landschaft, kannten etliche Pflanzenarten und was sie noch nicht kannten, bestimmten sie gemeinsam.

Er vergisst seine linke Körperhälfte

Kann J. B. thematisch einhaken, sprudeln ganze Sätze. Er erlitt 2018 einen Hirnschlag und leidet seither unter einem Neglect, das heisst, dass er seine linke Körperhälfte nicht mehr wahrnimmt. Er kann sie zwar bewegen, und mit Hilfe seiner Frau macht er täglich einen kurzen Spaziergang. Ohne Unterstützung könnte er aber nicht mehr unterwegs sein. Seine Kommunikation ist zudem eingeschränkt, er ringt häufig nach Worten, fühlt sich gestresst, wenn ihm die Zeit zum Antworten fehlt. Kann er den Faden aber aufnehmen, spricht er flüssig.

«Im Frühling spielte sich auf den Trimmisser Strassen zur Zeit der Amphibienwanderung stets eine Tragödie ab», erzählt er. Denn besonders von den langsamen Kröten hätten unzählige den Tod gefunden. J. B. verspürte Mitleid und begann also nach neuen Laichplätzen Ausschau zu halten.

Im Valturtobel oberhalb des Dorfes fielen dem wandernden Ehepaar Feuerlilien und Türkenbund (siehe Bild) auf, Blumen, die es sonst nur noch selten gab. Zugedeckt war diese ganze Pracht von einem Holzschlag. Also erwachte in J. B. die Idee, diese Wiese freizuräumen und zu roden. In der naturkundlichen Vereinigung Trimmis (NVT), die er 1989 zu diesem Zweck gründete – der Name «Naturschutzverein» wäre damals noch zu revolutionär gewesen –, fand der Kantonsschullehrer Verbündete.

Es wäre nicht gut gewesen, wenn wir als Unterländer die Initiative ergriffen hätten.»
R. B., Naturschützerin

Ihm war von Beginn weg klar, dass er Einheimische ins Boot holen musste. «Es wäre nicht gut gewesen, wenn wir als Unterländer die Initiative ergriffen hätten», sagt Frau B. und blickt ihren Mann liebevoll an. Er habe immer viel Diplomatie und Verhandlungsgeschick an den Tag gelegt. Schliesslich hatte man es meist mit Bauern als Landbesitzer zu tun. Diese mochten es nicht, wenn man ihnen Vorschriften machte. Schliesslich konnte der Verein das Tobel zu einem symbolischen Zins pachten. Die Freiwilligen hoben dort in aufwändiger Fronarbeit einen Weiher aus: für die Amphibien ein neuer Platz zum Laichen. So wurde die Valturtobel-Wiese zu einem kleinen Juwel.

Der Valtur-Weiher war erst der Anfang. Frau B. bringt Zeitungsartikel, möchte in der Erzählung weitergehen. Aber J. B. nimmt es genau, will, wie es seine Art ist, Schritt um Schritt erzählen. Manchmal dreht er sich, seiner Einschränkung geschuldet, auch im Kreis.

Die naturkundliche Vereinigung Trimmis wuchs rasch auf 340 Mitglieder an und kümmerte sich bald auch um die Allmend. Dort liessen die Bauern ihr Vieh weiden, im Gegenzug sorgen sie dafür, dass die Freiflächen nicht verganden, also nicht überwuchert werden. Dabei wurden sie tatkräftig von der NVT unterstützt, deren Mitglieder auf dem unebenen Gelände sogar mit der Sense mähten.

Neben der Allmend kümmerte sich die NVT auch um die Heckenlandschaft: Die Hecken sind vor allem für viele Vogelarten ein wichtiger Lebensraum. Ein weiteres Projekt: die Trockensteinmauern. Die Bauern türmten seitjeher die Steine, die sie in ihren Feldern fanden zu Mauern auf. Diese bilden wiederum ein Biotop für verschiedene Tierarten. Der NVT hat bis heute mit Hilfe von Schulklassen und anderen Organisationen 2,7 Kilometer Trockenmauern aufgebaut.

Die Elternliebe auf die Natur konzentriert

J. B.s Engagement für die Landschaft erfolgte immer in seiner Freizeit, der Mann war ja eigentlich Kantonsschullehrer. Erst gegen Schluss seiner Lehrerlaufbahn reduzierte er sein Pensum, um mehr Zeit für seine Naturschutzprojekte zu haben.

Das Ehepaar B. ist kinderlos geblieben, aber es scheint, als hätte es seine Elternliebe der Natur geschenkt. Neben dem aufwändigen Frondienst vertiefte sich J. B. an den Wochenenden in Fachliteratur und brütete über neuen Ideen. Dank seiner Beharrlichkeit und des Fachwissens eines Botanikers und eines Wildbiologen schaffte er es schliesslich, die Naturschutz-Projekte rund um Trimmis, dem «Fonds Landschaft Schweiz» anzumelden, einem Fördertopf für genau solche Projekte. 2001 wurde das Projekt «Heckenlandschaft Trimmis» und seine Initianten, darunter J. B., sogar mit einem wichtigen Preis ausgezeichnet.

Aber nicht alles verlief reibungslos, J. B. musste auch Rückschläge hinnehmen. Damit die einzelnen Naturschutzmassnahmen gelingen, müssen die separaten Flächen vernetzt sein. Dann können Tiere und Insekten zirkulieren. Deshalb schwebte J. B. neben der Heckenlandschaft auch ein Kulturlandschaftsprojekt vor. Als er dieses an einer Gemeindeversammlung vorstellte, habe er nur Ablehnung und Spott geerntet, erinnert sich seine Frau. Doch er blieb beharrlich, liess sich nicht entmutigen. Heute ist das Kulturlandprojekt ebenfalls Realität.

Bequem war das Leben nicht mit dir, dafür spannend, ein Geschenk.»
R. B.

Auch privat gehört das Ehepaar zu den Öko-Pionieren. Sie liessen als eine der ersten ein Mehrfamilienhaus in Zürich nach Minergie-P-Standard mit Fotovoltaik sanieren. «Dieser Umbau war fast traumatisierend, weil es so viele Schwierigkeiten gab und viel Durchhaltewillen von uns verlangte. Er schweisste uns aber auch zusammen.» Das Haus am Zürichsee, in dem sie heute wohnen, wird mit einer Erdsonde geheizt. Etwas, das die Spezialisten an der steilen Hanglage zuvor für unmöglich hielten. Sonnenkollektoren liefern das warme Wasser. Ihre Alterswohnung am Bodensee haben sie mit einer Fotovoltaik- Anlage ausgerüstet.

R. B. schaut ihren Mann an und lächelt. «Bequem war das Leben nicht mit dir, dafür spannend, ein Geschenk.» Von ihm habe sie gelernt, was Idealismus heisst. Sein Engagement für die Landschaft um Trimmis, die Umbauprojekte hin zu ökologischem Wohnen, sind zudem Zeugnisse von gelebter Solidarität, einer Solidarität mit der nächsten Generation. Auch wenn das Ehepaar B. selbst keine direkten Nachkommen hat, ist es ihm nicht egal, wie die späteren Generationen leben werden.

Auf die heutige «Klimajugend» angesprochen, strahlt J. B. Seine Frau sagt: «Er wollte an einem der Fridays for Future sogar demonstrieren gehen. Aber sein Gesundheitszustand liess es nicht zu.» Er erzählt, zuerst stockend, dann fliessend, von den zwei Töchtern seines Neffen, die nun Vegetarierinnen geworden seien und ihre Eltern überreden, mit dem Zug statt dem Flugzeug in die Ferien zu fahren. B.s sind begeistert.

Gemeinsamer Tod kurz vor Weihnachten

«Wenn ich kein Projekt mehr habe, sterbe ich», sagte einst einer von J. B.s Mitstreitern. Für ihn könnte das Zitat ebenso gelten. Seit er nicht mehr lesen kann, hat das Leben für ihn viel Qualität verloren.

Kurz vor Weihnachten wollen Herr und Frau B. mit Exit selbst aus dem Leben gehen. Ihr grosser Wunsch ist es, dies gemeinsam zu tun. Denn inzwischen ist auch die Ehefrau schwer erkrankt, an Krebs in fortgeschrittenem Stadium. Alleine zurückbleiben will keiner von ihnen. Eine «Paarbegleitung» nimmt jedoch auch Exit nicht auf die leichte Schulter. Die Bedingungen sind streng: Gutachten verschiedener Ärzte müssen vorliegen, pro sterbewilliger Person müssen je zwei Zeugen anwesend sein. Auch dieses Ziel verfolgen B.s mit einer Beharrlichkeit und in einer bewundernswerten Symbiose. Sie wollen Arm in Arm sterben.

Gestern ist der letzte Wunsch des Ehepaars B. in Erfüllung gegangen. Mit Hilfe von Exit haben sie ihr Leben gemeinsam beendet.

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