Zwischen «noch lebe ich» und «ich weiss, wie es weitergeht»

06.01.18

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Es gibt verschiedene Wege, doch alle führen zum gleichen Ziel (Bild: Christian Bieri/Fotolia).

Obwohl alle Patientinnen und Patienten von Onko Plus durch ihre unheilbare Krankheit verstärkt mit ihrer Endlichkeit konfrontiert sind, gehen sie so unterschiedlich mit dieser Tatsache um, so verschieden sie auch als Menschen sind. Palliativpflegefachfrau Eveline Häberli zu Besuch bei zwei Frauen, die ihrer Krankheit völlig gegensätzlich entgegentreten.

Ihren ersten Einsatz an diesem Tag hat Eveline Häberli bei einer Patientin im Furttal. Sie muss einer alleinstehenden Frau, die an Brustkrebs erkrankt ist, eine Spritze in den Gesässmuskel geben. Auf diese Weise wird der 78-Jährigen ein Medikament verabreicht, das auf hormonellem Weg das Tumorwachstum bremsen soll.

Die Wohnung befindet sich in einem Block. Als Häberli sie betritt, tönt aus dem Wohnzimmer laute Musik. Die Patientin steht in der offenen Küche hinter dem Tisch. Darauf hat sie einen Artikel aus dem «Beobachter» ausgebreitet. Er betrifft unter anderem das Medikament, das ihr gleich gespritzt wird. Es ist sehr teuer – die zwei Spritzen kosten 800 Franken und sind einmal monatlich nötig – und seine Wirksamkeit ist umstritten. Erwiesen sei nur, dass das Mittel das Tumorwachstum bremse, nicht aber, dass es auch das Leben der Patientinnen verlängere, heisst es im «Beobachter».

«Ich vertraue meinem Arzt.»
Brustkrebs-Patientin

Seit sie diesen Text gelesen habe, habe sie mehr Angst vor der Spritze, sagt die Frau. «Sprechen Sie diese Thematik bei ihrem Onkologen an», rät Häberli. Als die Patientin bereits bäuchlings auf dem Sofa liegt, und Häberli die Hände desinfiziert hat, fragt sie diese nochmals, ob sie die Spritzen tatsächlich wolle. Ja, sagt sie, sonst schimpfe ihr Arzt mit ihr – «und auch mein Sohn».

«Ich vertraue meinem Arzt», sagt sie später. Er habe sich bei der Krankenkasse dafür stark gemacht, dass diese ihr das teure Medikament finanziere. Als es beim Versicherer hiess, sie solle doch eine Chemotherapie machen, sagte der Onkologe, eine solche würde seine Patientin nicht überleben.

«Übers Sterben rede ich nicht.»

Häberli rät der Frau einzuatmen und während dem Einstich auszuatmen. Wenn sich die Patientin aufs Atmen konzentriere, sei sie beim Stechen nicht verkrampft, erklärt die Pflegefachfrau später. Die Medikamentenabgabe verläuft problemlos. Danach ist es der Patientin nur leicht schwindlig, als sie aufstehen will. Sie solle noch ein bisschen sitzen bleiben und mit den Füssen kreisen, sagt die Pflegefachfrau.

Die Patientin erzählt von einer Freundin, die nur vier Monate nach der Krebsdiagnose gestorben sei. Eveline Häberli nutzt die Gelegenheit, sie ebenfalls auf ihre Endlichkeit anzusprechen. «Darüber rede ich nicht», sagt sie bestimmt. «Noch bin ich am Leben.» Häberli hakt nicht nach.

«Hoffnung ist eine starke Kraft, die soll man den Menschen nicht nehmen.»
Eveline Häberli, Palliativpflegefachfrau

Auf dem Weg ins Zürcher Unterland spricht Eveline Häberli darüber, dass es für Spezialistinnen und Spezialisten häufig schwierig sei einzugestehen, dass sie keine Therapie mehr anbieten könnten. In der Begleitung von Schwerkranken seien neben Fachkompetenz die eigenen Wertvorstellungen der Fachpersonen über Endlichkeit von grosser Bedeutung. Und es gebe viele Patientinnen und Patienten, die auch in einem fortgeschrittenen Krankheitsstadium noch auf eine Wunderheilung hofften. «Hoffnung ist eine starke Kraft, die soll man den Menschen nicht nehmen.»

Es ist Mittagszeit vorbei, als Häberli bei einem Paar klingelt, das ebenfalls in einem Mehrfamilienhaus wohnt. Ein Mann öffnet, es ist der Lebenspartner der Patientin. Sie liegt wach und entspannt im Bett.

«Ich versuche einfach, die guten Tage zu geniessen. Ich bin mit wenig zufrieden.»
Patientin mit Bauchspeicheldrüsenkrebs

Die 73-Jährige hat Bauchspeicheldrüsenkrebs, und es ist aussergewöhnlich, dass sie schon seit viereinhalb Jahren mit dieser Diagnose lebt. Sie ist stolz auf diesen Umstand. Sie und ihr Lebenspartner konnten noch Reisen zusammen unternehmen. Häberli kennt die beiden von früheren Besuchen und hat mit der Frau auch schon intensive Gespräche übers Sterben geführt. Erst vor kurzem hat die Patientin sich entschlossen, mit der Chemotherapie aufzuhören.

Vor ein paar Jahren pflegte die Patientin ihren Ehemann zu Hause bis zum Ende. Seinen Tod habe sie positiv erlebt, sagt sie. «Es war gut: Kurz bevor er  für immer einschlief, zuckte er noch leicht.» Häberli sagt, das ihr die Patientin ruhiger vorkomme, seit sie den Therapiestopp beschlossen habe. «Ich habe gute Tage und schlechtere Tage», sagt sie heute. «Ich versuche einfach, die guten zu geniessen. Ich bin mit wenig zufrieden.»

«Sie können Onko Plus immer anrufen, auch nachts, um ihre Ängste zu besprechen.»
Eveline Häberli, Onko Plus

Bei ihr steht die Bekämpfung der Schmerzen im Vordergrund. Seit sie mit Onko Plus in Kontakt ist, musste sie die Dosis des Schmerzmittels stets etwas steigern. Häberli bespricht mit ihr und ihrem Partner, der nun ebenfalls auf einem Stuhl neben dem Bett sitzt, das Vorgehen. Er macht sich Sorgen, dass auch über das Wochenende genug Morphin-Tropfen vorhanden sind. Häberli wird nachher zusammen mit ihm den Bedarf ausrechnen und noch zwei Fläschchen vor Ort lassen.

Ein weiteres Thema sind Ängste. Die Patientin sagt, manchmal steige ein Gefühl in ihr hoch, dass sie runterziehe. Einmal habe sie dagegen ein ganzes Temesta genommen und eine «Horror-Nacht» mit Halluzinationen erlebt, in der sie schliesslich gar nicht mehr geschlafen habe. Sie und Häberli besprechen, dass sie künftig bei einer halben Tablette bleiben solle, womit sie schon gute Erfahrungen gemacht habe. Und sie könne auch die Onko-Plus-Notfallnummer anrufen, um ihre Ängste zu besprechen. Das sei gut zu wissen, sagen sowohl Patientin als auch ihr Partner.

Der magische Moment

Mag sie noch essen? Die Frau sagt, wenn sie ihren Mund mit Malvenspülung pflege, klappe das Schlucken noch gut. Sie esse immer wieder ein bisschen. Heute morgen zum Beispiel habe sie ein Confibrot gegessen. Ihr Partner runzelt die Stirn. Sie esse nur sehr wenig, sagt er. Er kümmert sich liebevoll um sie. Dennoch vergisst er sich selbst auch nicht und geht zwei Mal pro Woche Tennisspielen. In dieser Zeit komme dann eine Freundin zu Besuch oder eine ihrer Töchter komme vorbei. Alleine lassen will er sie nicht.

Eveline Häberli macht mit den beiden ab, dass sie in einer Woche wieder vorbeischaue, aber vorher anrufe um zu fragen, ob es auch nötig sei. Sie verabschiedet sich herzlich.

Auf dem Weg zum Auto erzählt sie, sie habe mit dieser Patientin bei einem der letzten Besuche einen «magischen Moment» erlebt. Ganz genau beschreiben kann sie diesen nicht. Es ging darum, dass die Patientin in absehbarer Zeit sterben wird. Nach einem intensiven und guten Gespräch, sagte die Frau sinngemäss: «Vielen Dank, Sie haben mir geholfen, ich weiss jetzt für mich, wie es weitergeht.»

«Die Konfrontation mit dem eigenen Tod ist ein Prozess, in dem man stetig wächst.»
Eveline Häberli

Eveline Häberli sieht die Position dieser zwei Patientinnen nicht als Gegensätze an. Die beiden seien vielmehr im Prozess, in dem sie ihre Krankheit und auch ihr Sterben annehmen, an einem anderen Punkt angelangt. «Es ist ein Prozess, in dem man stetig wächst. Und auch wenn man schon weit ist, bleibt die Einstellung nicht jeden Tag gleich.»

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